Die neue Mercedes S-Klasse, innovative Technik und ihre Elektronik-Geister

Ist die neue S-Klasse bereits ab Lager lieferbar? - Im Stuttgarter Raum sind Lagerplätze auszumachen, auf denen Fahrzeuge vom Typ neue S-Klasse stehen, die derzeit scheinbar im Handel nicht gebraucht werden. Tatsächlich haben diese "Lagerbestände" eine andere Ursache: die von DaimlerChrysler herbeigerufenen Elektronik-Geister spuken wohl ein wenig. Und man wird diese Geister nun so schnell nicht mehr los. Da sind Comand-System, Distronic, Lichtwellenleiter und 40 Stellmotoren vor. Und der für Informationen gedachte Bildschirm bleibt dunkel. So hört man aus DaimlerChrysler-Kreisen. Und beim Distronic-Zulieferer A.D.C. in Lindau kommt es zu endlosen Meetings. Aber man weiß nichts von einem fehlerhaften Elektroniksystem und verweist auf die Presseabteilung des DaimlerChrysler-Konzerns. Aber dort wird sogar bestritten, was Motor-KRITIK bekannte Motor-Journalisten aus eigener Praxis glaubhaft so schildern.

"Die Distronic versagte - und wenn ich nicht gebremst hätte..."

99-01-17/03. Motor-KRITIK hat keinen Anlaß die Schilderung zu bezweifeln. Es geschah auf der ersten Testfahrt für Journalisten auf der Strecke zwischen Zürich und Stuttgart. Die neue S-Klasse war mit der "Distronic" ausgestattet, dem "elektronischen Co-Pilot für noch mehr Komfort", wie DaimlerChrysler das System umschreibt.

Eine DaimlerChrysler-Tochter, die DaimlerChrysler Aerospace AG entwickelte und fertigt zwar solche "intelligenten Tempomaten", ist aber im Falle der neuen S-Klasse nicht Zulieferer. Das ist bisher ausschließlich die A.D.C. (die Abkürzung steht für Automotive Distance Controlsystem), ein Joint Venture von Leica, Continental Teves und der Daimler-Tochter TEMIC in Lindau am Bodensee.

Auffallend, daß von einem Mitarbeiter dieser Firma keine Antworten auf die vielen Fragen von Motor-KRITIK zu erhalten waren. "Wenden Sie sich bitte an die Presseabteilung von DaimlerChrysler", wurden wir freundlich aber bestimmt verwiesen. Auf den Sicherheitsaspekt dieses Systems hin befragt, machte man darauf aufmerksam, daß die "Distronic" weniger der Sicherheit, sondern mehr dem Komfort dienen solle.

Auch in den DaimlerChrysler-Unterlagen ist der Begriff Sicherheit in Verbindung mit der "Distronic" nicht zu finden. Es wird immer nur von Komfort gesprochen. Wie unsere Recherchen ergaben, handelt es sich bei der "Distronic" im derzeitigen Entwicklungszustand wohl auch mehr um ein "Unsicherheitssystem". Motor-KRITIK will seine Meinung nachstehend detailliert erläutern, wobei das eingangs geschilderte Erlebnis eines Journalisten wohl auch kein Zufall ist.

Von der Entwicklungsabteilung der Mercedes-Division waren beim neuen Nobel-Mercedes dringend "Innovationen" durch den Vorstand gefordert. Schon aus Konkurrenzgründen. Und in der Pressemappe zur neuen S-Klasse wird auch stolz von "30 Innovationen" gesprochen. Aber das sind Worte, mit denen man wohl die Spitzenposition in Sachen innovative Technologie betonen möchte.

Denn viele der von Mercedes aufgezählten Innovationen sind keine, sondern schon anderswo im Einsatz. In Sachen "Distronic" kann jedoch die Firma DaimlerChrysler für sich in Anspruch nehmen, als erste Automobilfirma damit in Serie gegangen zu sein. Motor-KRITIK meint: zu früh.

In der jetzigen Form weist das System noch einige Schwächen auf, die besonders dann deutlich werden, wenn man das System nicht für sich, sondern in Verbindung mit seinen Nutzern, den Menschen betrachtet. Man kann das so oberflächlich tun, wie das z.B. der TÜV Rheinland/Berlin-Brandburg, Köln tut. Zitat:

"Die Distronic erleichtert das Autofahren vor allem auf viel befahrenen Strecken. In gewissen Situationen kann sie sogar vor Gefahren schützen. Der Autofahrer versteht, die elektronisch gesteuerte Distanz-Regelung als Hilfe beim Fahren gut zu nutzen, und hat mit dem Handling keine Probleme.

Dies ist das Ergebnis von umfangreichen Tests mit Anwendern, die das Institut für Verkehrssicherheit des TÜV Rheinland/Berlin-Brandenburg im Laufe der letzten Jahre mit solchen Systemen für verschiedene Autohersteller, unter anderem auch DaimlerChrysler, durchgeführt hat. Insofern handelt es sich bei der Distronic um eine konsequente Weiterentwicklung elektronischer Assistenzsysteme, die in neuen Autos immer häufiger zum Einsatz kommen werden."

Stellen wir der Meinung (und den Feststellungen) der Fachleute vom TÜV die der Fachleute von der BAST, der Bundesanstalt für Straßenwesen, gegenüber. Zitat:
 
"Auf der Grundlage einer Literaturstudie und der Analyse von Bewertungen vorhandener Ausrüstungen anhand einer Checkliste zu PROMETHEUS erfolgte eine Sichtung bereits durchgeführter Fahrverhaltensbeobachtungen in Fahrzeugen mit neuen Sicherheitssystemen. Aus dem gewonnenen Datenmaterial wurden Hypothesen über die möglichen Auswirkungen automatischer Abstands- und Geschwindigkeitsregler entwickelt und im Rahmen von Round-Table-Diskussionen in Deutschland, Österreich und Schweden erörtert. Auf einer Versuchsstrecke wurde das Fahrverhalten bei zwei unterschiedlichen Automatisierungsgraden der Fahrzeugtechnik hinsichtlich verschiedener Fahrverhaltensmerkmale der Testfahrer, wie beispielsweise Tempowahl, Überholen, Spurwechsel oder Abstandhalten sowie das Interaktionsverhalten mit anderen Verkehrsteilnehmern bewertet ... Ziel war es, Einstellungstypen in bezug auf Verkehrsverhalten und spezielle Merkmale des Straßenverkehrs zu definieren sowie Differenzierungen von Verhaltensanpassung nach diesen Typen vorzunehmen."
Zu den Ergebnissen sagen die Fachleute der BAST:
 
"Eine wichtige Rolle im Verhalten des Fahrzeugführers anderen - vor allem schwächeren - Verkehrsteilnehmern gegenüber spielt die Einstellung zum Autofahren und zu anderen Verkehrsteilnehmern. Es konnten drei Fahrer-Einstellungstypen gefunden werden: Die persönlichkeitsbezogenen Unterschiede im Einstellungs- und Gefühlsbereich reichen Beispiele des Systemeinflusses auf Fähigkeiten und Fertigkeiten sind unter anderem eine veränderte Aufmerksamkeit. eine verminderte Sensibilität für Gefahren und die Zunahme von Überwachungsaufgaben."
Das hört sich anders an als beim TÜV. Und bei weiteren Recherchen wurde noch eine weitere gravierende Schwäche der DaimlerChrysler "Distronic" deutlich, die - zumindest bei Motor-KRITIK - die Einordnung des Systems als ein Unsicherheitsfaktor deutlich verstärkte: das Radarsystem der von DaimlerChrysler in der neuen Mercedes S-Klasse verbauten "Distronic" sieht auch bei Nebel besser als das menschliche Auge. Aber nur das, was ihm im Rahmen seiner technischen Fertig- und Möglichkeiten vorgegeben ist.

Die DaimlerChrysler-Tochter Aerospace AG beschreibt ein solches System so:

"Ein intelligenter Tempomat - ausgestattet mit einem Radarsensor - orientiert sich zu jedem Zeitpunkt am jeweiligen Verkehrsumfeld. Er detektiert und bewertet alle vorausfahrenden Fahrzeuge, mißt deren Abstand und Geschwindigkeit zum eigenen Auto und paßt durch Eingriff in Gas und Bremse die Geschwindigkeit zum vorausfahrenden Fahrzeug an. Fährt dieses Fahrzeug wieder schneller oder verläßt es die Spur, beschleunigt das TPR-Fahrzeug erneut auf die zuvor eingestellte Geschwindigkeit. Dies entlastet den Fahrer auf langen Strecken, insbesondere bei schlechtem Wetter, wie zum Beispiel Regen oder schlechter Sicht."
Schildern wir zunächst einmal exakt die Möglichkeiten des in der S-Klasse verbauten "Distronic"-Systems:

Das System hat eine Reichweite (Sichtweite) von 150 Meter, funktioniert im Geschwindigkeitsbereich zwischen 40 und 160 km/h und läßt sich auf einen zeitlichen Abstand zum Vordermann von 1,0 bis 2,0 Sekunden einstellen. Aber es werden nur Fahrzeuge oder Gegenstände erkannt, die sich mit einer Geschwindigkeit von oberhalb 10 Prozent der eigenen Geschwindigkeit fortbewegen. Stehende Gegenstände werden so spät gemeldet, daß ein Crash nur noch durch ein Ausweichmanöver, aber nicht durch Bremsen zu umgehen ist.

Tatsache: auch im Notfall veranlaßt die "Distronic" nur eine weiche Bremsung mit einer Verzögerung von zwei Metern pro Sekunde², fordert aber den Fahrer gleichzeitig per Signal zu einer Vollbremsung auf. Wenn sich nun der Fahrer aber auf sein elektronisches System verläßt und nicht voll angespannt den Verkehr und seine Instrumente beobachtet... -

Außerdem besteht die Gefahr, daß ein System "zur Risikokompentsation mißbraucht" wird, wie die BAST, die Bundesanstalt für Straßenwesen in einer Untersuchung feststellen ließ.

Derzeit sieht die "Distronic" z.B. im Nebel besser als das menschliche Augen. Da ist die Versuchung groß, mit einem solchen System im dichten Nebel schneller zu fahren, als man es ohne System täte. Und alles funktioniert ja auch so lange und gut, wie die Geschwindigkeit des Vordermannes höher als 10 Prozent der eigenen Geschwindigkeit beträgt. Hat sich aber im dichten Nebel vor einem ein Unfall ereignet (pro Jahr ereignen sich ca. 1000 solcher Nebelunfälle), dann stehen die Unfallfahrzeuge auf der Fahrbahn, die "Distronic" kann sie (da vom Menschen so ausgelegt) nicht wahrnehmen, bremst im letzten Moment mit "komfortablen" zwei Metern pro Sekunde²; und noch während das System den Lenker zur Vollbremsung auffordert, hat es schon gekracht.

Weil man diese Schwäche des "innovativen Systems", des Abstandsregel-Tempomaten, der sich bei DaimlerChrysler "Distronic" nennt, kennt, haben andere Automobilhersteller mit einem solchen System noch nicht den Schritt in die Serienfertigung gewagt. Man arbeitet zunächst an der Perfektion, die z.B. im Falle Opel so aussieht, daß man dem Gerät noch einen Nebelsensor mitgibt. Ein integrierter Infrarotlaser sendet hier (zusätzlich zu den Strahlen des Radargeräts) für das menschliche Auge unsichtbare Meßstrahlen aus. Das Empfangsteil registriert die von den Nebeltröpfchen reflektierten Strahlen., Aus dem Grad der Reflektionen errechnet dann ein Computer die Sichtweite und begrenzt dann die vom Radargerät eigentlich noch hingenommene, auf eine der Sichtweite entsprechende Geschwindigkeit .

Radar, Laser, Antennen, Empfänger, Sensoren, Rechner, Stellmotoren, Kabel, Lichtleiter, Schnittstellen. - Wie zuverlässig kann so ein System sein?

Die Schiffahrt benutzt Radar, um auch noch bei Nebel fahren zu können. Wer sich aber z.B. mit einem Kunststoffboot unter die großen Dampfer mischt, die mit Radar-Augen durch den Nebel fahren, der sollte einen Radar-Reflektor am Mast befestigt haben. Denn Kunststoffboote erkennt ein Radargerät nur schlecht. So wird auf einer Autobahn ein Trabant oder eine Corvette sicherlich auch nur schlechter erkannt werden können als ein Tanklastzug. Menschen werden vom Radargerät auch praktisch übersehen werden, da einmal nicht aus dem Stoff bestehen, den Radargeräte besonders mögen, auf der anderen Seite sind sie - zumindest für die "Distronic" - auch zu langsam.

Also was sollen solche Geräte in einem Automobil? - Eigentlich erhöhen sie objektiv im realen Fahreinsatz (unter Berücksichtigung der menschlichen Schwächen - s. BAST) die Gefahr, sind auch zusätzliche Fehlerquellen im Betrieb eines Automobils. Wie derzeit auch die Lagerbestände bei der neuen S-Klasse in Sindelfingen (und Umgebung) beweisen.

Wie von DaimlerChrysler-Mitarbeitern zu erfahren, funktioniert bei diesen Fahrzeugen das elektronische System nicht, zum Teil dann erst nicht, nachdem bestimmte Komponenten gemeinsam als Sonderzubehör eingebaut wurden. - Elektro-Smog, unvollkommene Abschirmung, Fehler bei den Schnittstellen, im Comand-, im Lichtleitersystem?

Wir bei Motor-KRITIK waren jedenfalls total überrascht, als wir vor Monaten erfuhren, daß DaimlerChrysler die "Distronic" schon in der neuen S-Klasse einsetzen würde. Wir hatten noch Ende Januar 1998 (exakt am 23. Januar) ein Mercerdes-Testteam auf der Fahrt in den Hohen Norden erlebt, das die Aufgabe hatte, das Fehlverhalten der Anlage zu analysieren, das dann auftrat, wenn die Radarantennen durch den aufgewirbelten Schmutz (Schneematsch) verdreckten. Zu diesem Zeitpunkt war nach unseren Recherchen jedenfalls die Anlage auch in diesem Punkt noch sehr empfindlich.

Und wenn wir berücksichtigen, wie Insider jetzt auf unserer Anfrage reagierten, dann gehen zur Zeit wohl hinter den Fassaden, die die Pressemannschaften der interessierten Werke (Hersteller und Zulieferer) errichtet haben, die Wogen hoch.

Man kann nur wünschen, daß sich das System in den Fahrzeugen gleich vom ersten Tag an als so fehlerhaft erweist, daß ihm die Nutzer nicht vertrauen. Nur so könnte es als Sicherheitssystem Sinn machen. Obwohl die Geldausgabe dafür unsinnig ist.

DaimlerChrysler hat offensichtlich mit der Einführung der "Innovation" "Distronic" einen Frühstart hingelegt. Vielleicht müssen deshalb derzeit ein Teil der neuen S-Klasse zu einer Strafzeit in die Mercedes-Läger. - Wie man das - bei Frühstart - ja auch von der Formel 1 kennt.

Und wenn man weiß, daß die Industrie zur Zeit schon an einer Weiterentwicklung arbeitet, nämlich der Spurerkennung, und weiß, daß dafür neue Lenksysteme entwickelt werden, bei denen praktisch die Lenksäule entfallen kann... -

Ab einem gewissen Punkt wird die technische Entwicklung, das Ringen der Hersteller um die technologische Führerschaft unsinnig. Und beim Autokäufer macht sich - auch wegen der Kosten - Ernüchterung breit. Es kommt dann zu einer Umkehrung der Ansprüche. "Verständliche Technik" wird wieder gefragt sein. - Erschwingliche Technik.

Aber da ist zunächst noch PROMETHEUS vor, ein Forschungsprogramm, das zwischen 1989 und 1994 lief und einen "europäischen Verkehr von höchster Leistungsfähigkeit und bisher unerreichter Sicherheit" sicherstellen sollte.

Ist die "Distronic" da nicht ein wundervolles Beispiel für verantwortungslose Innovationen, die nur noch der industriellen Selbstdarstellung und dem sogenannten "qualitativen Wachstum", aber nicht mehr dem Menschen dient?

Diese Frage muß jeder für sich selbst beantworten. Und seine Schlüsse daraus ziehen. Diese Geschichte kann nicht mehr als eine gedankliche Anregung sein.

MK/Wilhelm Hahne

Hinweis: Zum gleichen Thema ist in den "VDI-Nachrichten" am 15.01.99 ein interessanter Beitrag erschienen, der zum Teil die obige Darstellung ergänzt.