Über die moderne Art der Entwicklung einer Bremsanlage für ein Automobil

Früher, ja da wurde vieles "im Hause" gemacht. Man ließ sich zwar von Zulieferer-Spezialisten zuarbeiten, aber die Detailentwicklung, der Versuch, der Dauertest, alles lag beim Automobilhersteller. Das war die gute alte Zeit, als so mancher Hersteller noch über Entwicklungskompetenz verfügte. Heute nutzt man Synergieeffekte, das Wissen von Spezialisten. Aber nur, wenn es auch billig - ganz billig - zu erhalten ist. Natürlich müssen die Konstruktionsdetails den Anforderungen der Praxis genügen. Aber was ist Praxis? - Lassen Sie sich nachstehend einmal am Beispiel einer neuen Bremsanlage für ein neues, "demnächst in diesem Theater" erscheinendes Kleinwagenmodell erzählen, wie heute so etwas abläuft. Und dann wundern Sie sich auch nicht mehr, warum es heute Automobile gibt, deren Bremsscheibenverschleiß an der Hinterachse fast so groß ist wie der an der Vorderachse.

"...den Rest rechnet der Computer"

99-09-30/05. Man macht sich schon eine Menge Gedanken bei der Automobilindustrie. Vor allen Dingen darüber, wie man Entwicklungszeiten verkürzen, Entwicklungskosten senken kann. Manches kann da ein "Systemlieferant" besser als man selbst. Da wären zum Beispiel die Bremsen. Sie sind wichtig. Aber sie dürfen preislich nicht von Bedeutung sein. Also schaut man zu - was nicht strafbar ist - wo man das für ein neues Automodell benötigte Bremssystem am billigsten bekommt.

Die Bremsenhersteller erhalten Vorgaben, der konstruktive Rahmen wird abgesteckt, die Mindestanforderungen festgelegt. Und es wird vom Bremsenhersteller ein Angebot unterbreitet. Da aber nicht nur einer mit dem Automobilhersteller verhandelt, ist der Preis entscheidend. Und der wird wieder bestimmt von den Kosten, die ein Bremsenhersteller bei der Entwicklung einer Bremse hat.

Eine Bremse entsteht heute zunächst am und auf dem Computer. Die Erfahrungen kommen von der Festplatte. Und so läßt sich dann in relativ kurzer Zeit die Bremsanlage entwickeln.

Die kommt dann auf Prüfstände, wo sie auf Herz und Nieren getestet wird. Nachdem die Konstruktions-Computer alles wissen, sich auf den Prüfständen alle Anforderungen an die Bremse darstellen lassen, müßte eine Bremsanlage eigentlich schon fast perfekt sein, wenn sie in den ersten Prototypen eingebaut wird.

Aber oft sind die Ergebnisse in der Straßenpraxis deutlich von denen abweichend, die auf den Prüfständen erzielt wurden. Ein paar Parameter stimmen nicht und schon beginnt die Entwicklung Geld zu kosten.

Draußen, auf der Straße, da werden die ersten Versuchsträger von erfahrenen Ingenieuren gefahren. Die kosten Geld. Es muß schnell gehen. Die Versuchsfahrzeuge sind darum mit Meß- und Überwachungsinstrumenten voll gestopft. Und alle Ergebnisse sollen möglichst reproduzierbar sein. Nur mit dem Fahrer besetzt sind solche Bremsenversuchsfahrzeuge kaum unterwegs. Meist werden sie mit voller Auslastung gefahren. Damit man sicher ist, daß die Bremsanlage auch den Maximalanforderungen genügt.

Und das tut sie denn auch. Und weil die Marketingabteilung hinten eine Bremsscheibe ("Bremstrommeln hinten können wir in der angepeilten Preisklasse nicht mehr verkaufen.") verlangt hat, wird auch diese Scheibe der Maximalbelastung unterzogen. Später dann, beim normalen Autokunden, wird das Fahrzeug überwiegend nur mit dem Fahrer besetzt gefahren. Die Bremskraft die dann nach hinten durchgeleitet wird kann bei normalen Bremsvorgängen so aber nicht mehr die notwendige Betriebstemperatur erreichen, die die hintere Scheibe von Schmutz freibrennt.

Und so kommt es hinten in der normalen Praxis zu einem Bremsenverschleiß, der von allen betroffenen Autofahrern als "technischer Fehler" empfunden wird. Dass heute Bremsscheiben hinten nach rd. 60.000 Kilometern normaler Fahrt ausgewechselt werden müssen, gehört bei bestimmten Fabrikaten schon zur Normalität.

Das ist schon so normal, dass sich niemand mehr darüber aufregt oder Gedanken macht. Eine Trommelbremse wäre hier für Hersteller und Kunde preisgünstiger. Aber wer weiß das schon? - Denn im Versuch... -s.o. -

Und dann ist die Bremse so weit. Die Konstruktion "steht". Es kann zum Dauerversuch kommen. Dauerversuch hat aus Kundensicht einen besonderen Klang. Nach Motor-KRITIK-Umfrage glaubt ein normaler Autofahrer schon, daß bei einem Dauerversuch mindestens 100.000 Kilometer gefahren werden. - Das war auch mal so.

Der Ingenieur eines Bremsenherstellers: "Wer soll denn heute noch so etwas bezahlen?" - Und er berichtet, daß man heute als Dauerversuch einen Test über 10.000 Kilometer begreift. Der wird auch nicht mehr von Fachleuten, sondern von Aushilfen, von sogenannten 630-Mark-Leuten im Schichtbetrieb (also rund um die Uhr) durchgeführt. Da fährt Herr und Frau Jedermann, ein Rentner, eine Hausfrau, ein Student, und prüft die Neukonstruktion auf Herz und Nieren. - Haha!

Und woher weiß man denn, wie lange so eine Bremse in einer Neukonstruktion hält? - Der Fachmann: "Aufgrund unserer Erfahrungen können wir die Versuchsergebnisse im Computer hochrechnen."

So kommen neue Automodelle billig zu ihrer Bremsanlage. Und überall fließt die Computererfahrung, fließen die Synergien und alle tollen Sachen ein. Und wir als Auto-Normalverbraucher wundern uns dann, wenn schon nach ein paar scharfen Bremsungen die Bremsscheiben verzogen sind und rubbeln oder die hinteren Bremsscheiben... -

Der Fortschritt ist eben unaufhaltsam. Und die großen Unternehmenslenker sorgen dafür, daß das bisherige technische Kusntwerk Automobil zu einer Billig-Ware verkommt. (Zumindest in der Herstellung!) Damit die Gewinne, die Aktienkurse, ihre Einkommen stimmen. - Und die Kunden sind ja dumm. Die werden schon nichts merken.

Ach, Sie haben auch Ärger mit Ihrer Bremsanlage? Und die hintere Bremsscheibe... - Das muß ein Einzelfall sein. Und schauen Sie sich mal die Testergebnisse in den Fachzeitschriften an. Bombig, klasse, toll!

Vor ein paar Wochen stieß ich auf ein Fahrzeug, in dem, obwohl hubraum- und leistungskleiner, die Bremse des Top-Modells dieser Modellreihe verbaut war - Durch einen Zufall..

So lassen sich dann kleine Bremsenschwächen eines Modells überdecken. Auch der 630-Mark-Spezialtester eines Bremsenherstellers hätte das nicht bemerkt.

MK/Wilhelm Hahne