Vor 12 Jahren, im Frühjahr 1992, führte Wilhelm Hahne in Genf ein Interview mit Jürgen Hubbert, Mercedes-Benz-Vorstand

Beim Herumklicken auf der Festplatte bin ich auf ein altes Interview gestoßen. Vor 12 Jahren geführt. In Genf. Gesprächspartner war Jürgen Hubbert, schon damals als Vorstandsmitglied von Mercedes-Benz für den Sektor Personenkraftwagen verantwortlich. Interessant - auch für mich - nach einem Dutzend Jahren noch einmal an meine damalige Meinung, Einschätzung der Situation, aber auch die von Jürgen Hubbert, der - genau wie ich - immer noch auf dem gleichen Gebiet tätig ist - erinnert zu werden. Sie müssen sich bei jeder Frage, jeder Antwort bewusst sein: es geschah vor 12 Jahren. 

Über Nischen, Kapazitäten und das richtige Gespür

04-02-10/05. - ....und es geht sofort los:

Hahne: Sie sprechen von Nischen. Glauben Sie nicht, dass Sie in Zukunft noch mehr Nischen füllen, noch mehr splitten müssen, wenn Sie das, was der Markt noch bietet, wahrnehmen, wenn Sie das nicht der Konkurrenz überlassen wollen?

Hubbert: Es gibt zweifellos eine Menge Ideen die wir haben. In allen Baureihen. Um sie noch auszuweiten.

Hahne: Ich denke an andere, kleine Marktsegmente. Ich denke dabei an das, was ich einmal Familien-Automobil nennen möchte und in verschiedenen Formen vorstellbar ist; ich denke an ein Stadtautomobil. Das heißt in diesem letzten Fall, an etwas, was heute auch noch nicht geboten wird: ein relativ kleines Automobil, relativ stark motorisiert um ein entspanntes Fahren zu ermöglichen, ein Fahrzeug mit hoher Sicherheitsausstattung. - Es gibt eben immer noch Marktlücken, die nicht entdeckt sind. Es wäre doch mercedes-like, so etwas auszufüllen.

Hubbert: Ich denke, dass diese Marktlücken bereits besetzt sind. Ich nenne da nur den Golf VR6. Dann beschreibt der doch schon ein wenig, was Sie sich vorstellen. - Sie haben den Begriff Stadtauto erwähnt: es könnte durchaus Situationen geben, die es notwendig machen, ein solches Paket zu schnüren, aus einer komfortablen Reiselimousine und einem kleineren Auto, mit dem man sich in Stadtbezirken bewegt. Damit beschäftigen wir uns. Das Kernproblem ist: unser Anspruch ist, so ein Fahrzeug mit dem Sicherheitsanspruch eines Mercedes zu machen. Keines der bisher vorgestellten Fahrzeuge bietet das. Alle sind kleine, leichte - sage ich mal - Stadtfahrzeuge, die wesentliche Kriterien die wir für wichtig halten, vernachlässigen. Insofern könnte es wirklich eine Idee sein, ein solches Stadtfahrzeug nach unseren Maßstäben zu kreieren. Das Problem dabei: wir müssen in erhebliche Stückzahlen kommen, um so etwas auch wirtschaftlich darzustellen. Und das muss man natürlich sehen: wie weit man eine solche Nische ausfüllen kann, inwieweit man solche Fahrzeuge vom Wettbewerb holen muss, was das für die Konkurrenzsituation bedeutet - Mercedes-Benz mit 800 oder 900.000 Fahrzeugen wäre eine andere Firma.

Hahne: Aber von der Fertigungskapazität, die Ihnen in absehbarer Zeit zur Verfügung steht - und es werden sich auch Märkte verschieben - wird eine solche Fertigung bei Ihnen möglich sein. Es werden Preiskategorien kleiner werden, wenn sich die wirtschaftliche Situation so entwickelt, wie sie sich in einigen Ländern so darstellt. Und wenn ich Rastatt schon in meine Überlegungen einbeziehe, dann können Sie ohne eine weitere Ausweitung schon so etwas in der Praxis durchführen. Das ist doch keine Theorie.

Hubbert: Lassen Sie mich das mal ein bisschen klar stellen: wir hatten in Sindelfingen eine Kapazität von 430.000 Autos und in Bremen von 190.000, das ergäbe 620.000. Aufgrund des qualitativen Wachstums - zusätzliche Komponenten, andere Autos - gehen in Sindelfingen heutzutage gerade noch 380.000, in Bremen etwa 180.000, macht 560.000 Fahrzeuge. Das produzieren wir heute. Wir werden in Rastatt eine Kapazität von etwa 90 - 100.000 Autos erhalten, das macht dann eine Gesamtkapazität von 650.000. Die könnten wir allerdings dann ausschöpfen.

Hahne: Mit diesen Produktionsmöglichkeiten wären Sie dann ja auch in der Lage, diese neue Art von Automobil - eine mercedes-like Art von - nennen wir es mal Vernunftfahrzeug, weil Stadtfahrzeug vielleicht der falsche Begriff ist - zu fertigen. Vernunftfahrzeug deswegen, weil: ein Mensch der sitzt, braucht nur eine bestimmte Menge Platz. Ob sie einen Sessel in einen 40 Quadratmeter- oder einen 100 Quadratmeter-Raum stellen, der Mensch kann nicht mehr als die Füße ausstrecken. Er braucht nicht mehr Platz, als er im Sitz, beim Sitzen braucht. Genauso ist das im Automobil. Wenn man über kurze Zeit ein Automobil nutzt - und die meisten werden nur für relativ kurze Fahrzeiten genutzt - braucht man nicht den Platz, den man in der S-Klasse hat. Einer solchen Limousine will ich nicht den Wert des Raumgefühls beim Reisen über längere Zeit absprechen. Aber  beim überwiegenden Anteil der Kurzstreckenfahrten ist das nicht notwendig. Da kann ich ein Raumgefühl auch anders erzeugen. Darum sehe ich da eine Lücke.

Hubbert: Wir können uns, glaube ich, darauf verständigen, dass es unterschiedliche Ansprüche und unterschiedliche Menschen gibt. Und allen müssen wir in gewisser Weise Rechnung tragen. Also es gibt schon ein Standardmaß, an dem wir uns orientieren. Es gibt auch ein Standardbedürfnis. Sie sprechen einen Punkt an, der mich persönlich auch beschäftigt. Immerhin konzipieren viele Leute ihren Anspruch an ein Automobil an einem Bedarf, den sie an 30 oder 40 Tagen im Jahr haben. Und sie fahren dann über die restlichen 300 Tage im Jahr mit einem gewissen Kompromiss. Man könnte sagen: vielleicht geht der Weg dahin, das Konzept, für das man sich beim Kauf entscheidet, auf die 300 Tage des Standardbedarfs auszurichten, während man sich für die restlichen 50 oder 60 Tage etwas Besonderes leistet. Sei es eine komfortable Reiselimousine, sei es ein Kombi. Ob man das dann kaufen will, muss man überlegen. Oder ob man auf eine Art von Pool-Leasing eines Tages kommt, dass wir - oder andere - solche Art von Fahrzeugen anbieten, für einen bestimmten Gebrauch. Das wäre eine andere Art von Leasing, ein andere Art von besitzen. Das ist ein Thema, das mich schon beschäftigt. - Das Stadtauto hat eine kritische Anmerkung: ich muss ein solches Auto - ich sage es noch einmal - 1) mit den wichtigen Standards darstellen können, 2) wenn es das Dritt- oder Viert-Fahrzeug in der Familie ist und die alle auch bewegt werden, werden die Verkehrsprobleme nicht kleiner, sondern größer.

Hahne: Für die tatsächlich genutzte Verkehrsfläche muss es sich aber positiv auswirken. Ich kann nicht gleichzeitig zwei Fahrzeuge fahren. Nutzt er das Stadtfahrzeug, bleibt die Reiselimousine stehen. Damit wäre ja doch etwas für den Verkehr getan. Und wenn ich jetzt einmal an das Motorrad denke, dann gibt es dort doch schon häufiger die Situation, dass man mehrere Motorräder hat. Jeder Motorradfahrer weiß, dass ein Motorrad nicht alles kann. Darum gibt es Sport-, Reise-, Enduro-, Trial-Motorräder. Und die Vorteile eines Rollers bietet kein anderes Zweirad. Mancher Motorradfahrer hat zwei Zweiräder. Aber das heißt nicht, dass er sie gleichzeitig nutzt. Genauso könnte es doch auf dem Automobilsektor kommen, dass das Anspruchsdenken an ein Automobil sich ändert. Wir sind ja geformt durch unsere Erziehung, unser Umfeld, durch das, was wir erlebt haben. Wir haben ja verlernt, in neuen Ansätzen zu denken. Alles wird vorgedacht und nachgeahmt. Leider sind unsere Vordenker ja genauso dumm, denken in die falsche Form vor. Es kommt also darauf an, dass Sie so eine Idee wie das Stadtfahrzeug überzeugend vordenken und einen entsprechenden Anstoß geben.

Hubbert: Da bin ich skeptisch. Die Zeiten, wo wir geglaubt haben, dass wir wissen was der Markt braucht - und wir geben es ihm - die sind für allemal vorbei. Der Slogan "Das Beste oder nichts" hat sich wirklich überlebt. Wir müssen uns umorientieren und - ich sage es noch einmal - es kommt ein anderer Anspruch auf, an den Hersteller. Auch Mercedes-Benz ist nicht die Firma die sagt, wir setzen den Markt. Wir können versuchen, Trends voraus zu ahnen und die Produkte in die richtige Richtung zu entwickeln. Ich meine, das haben wir auch getan. Wir haben im Grunde die offene Welle vorweg genommen, haben einen SL gemacht, der faszinierend ist und ohne echte Konkurrenz. Und ich muss sagen: auch die S-Klasse ist für mich ein Auto, für das es einen Bedarf gibt, den wir bedienen. Diesen Ein-Prozent Weltmarktanteil möchte ich machen und nicht irgend einem Japaner überlassen. Aber das ist nicht unser Programm. Unser Programm reicht vom 190er bis zum 600 SEL. Eine ganze Vielfalt. Und nun sagen Sie: darunter könnte auch noch etwas sein. - Und ich sage: Ja. - Aber es ist unglaublich schwierig für uns, bei unseren Ansprüchen an den Maßstab, so was "mal eben raus zu hauen", nach dem Motto: jetzt haben wir auch so was.

Hahne: Nein, es kommt darauf an, dass Sie im richtigen Moment den Gedanken haben und ihn so rechtzeitig fortentwickeln, dass das Projekt in dem Moment fertig aus der Schublade ziehen können, wenn der Markt dafür reif ist.

Hubbert: Wir haben mehr als Ideen für die Schublade. Und das werden Sie in absehbarer Zeit sehen.

Hahne: Schön. Damit wären wir doch schon ein ganzes Stück weiter. Aber lassen Sie mich noch etwas anderes dazu sagen: Sie haben eben den Kunden angesprochen; und dass Sie den Ansprüchen des Marktes genügen wollen. Der Kunde weiß ja gar nicht was er will. Sie können doch von einem Kunden nicht erwarten, dass er weiß was er will. Sie müssen es zunächst darstellen, dass er es visuell aufnehmen kann. Dass er es fühlen und - im wahrsten Sinne des Wortes - begreifen kann. Dann erst kann ein Kunde entscheiden, ob er es haben will. Sie können tausend Meinungsumfragen machen. Sie werden nie die hundertprozentige Sicherheit erlangen, die Sie erfolgreich bewegen könnte, ein bestimmtes Automobil ohne Absatzsorgen herzustellen. Damit fallen Sie eventuell - trotz aller Absicherungen - voll auf die Nase.

Hubbert: Nun sind wir nicht alleine im Markt. Es gibt solch ein breites Spektrum im Angebot, dass der Kunde sich schon in einer gewissen Richtung orientiert. Und Sie sehen hier - am Beispiel des Genfer Salons: es gibt doch nichts, von dem Sie sagen könnten: Das ist ja völlig anders. Was mich hier überrascht hat: Großraum-Limousinen sind so gut wie verschwunden. Vor einem Jahr haben wir uns noch unterhalten und gesagt: Da müssen wir alle hin. Lasst uns ganz schnell so'n Ding entwickeln. Gucken Sie mal heute. Tote Hose. Um den Previa kümmert sich kein Mensch. Und auch sonst: der Kunde geht offensichtlich andere Wege. - Das geht so ein bisschen in meine Richtung des vorher Gesagten: Versuche ich einen Bedarf zu decken von 90 Prozent des Anspruchs oder von 10 Prozent? - Trotzdem will ich Ihnen in einer Weise recht geben: der Automobilhersteller hat auch die Verpflichtung darüber nachzudenken, was die Zukunft bringt und sich darauf rechtzeitig einzustellen. Denn wie heißt der alte Spruch: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

Nachsatz: Nicht vergessen: dieses Interview ist 12 Jahre alt. Das wurde nicht durch irgendeine Presseabteilung geglättet. Darum gibt es darin sprachliche Unebenheiten. Es gab auch keine Standardfragen. Und die Antworten war der Ausgangspunkt für die nächste Frage, Erklärung. Und darum steht auch hier oben etwas drin. Was auch heute noch zum Nachdenken anregen kann. - Und darum mache ich seit Jahren auch keine Interviews mehr. Schauen Sie sich doch einmal die aktuellen Interviews an. - Wobei - und da mögen Sie Recht haben - das vorstehende Interview eigentlich kein Interview war. Es war mehr ein Gespräch, ein Gedankenaustausch. - Aber welches moderne, hoch verdienende Vorstandsmitglied, möchte sich heute schon von einem unwesentlichen Journalisten an vor ihm liegende Aufgaben erinnern lassen? - Und welche Presseabteilung lässt das zu? - Moderne Zeiten!

MK/Wilhelm Hahne


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