Ein Professorentitel ist... - Oder anders: Suzuki ist in Japan ein Name so häufig wie Müller in Deutschland

Wir haben eine Titelflut. Normal ist heute nicht mehr normal. So gibt es z.B. den Doktortitel ehrenhalber. Wenn Valentino Rossi den trägt, kann man darüber verständnisvoll schmunzeln. Aber wer begnügt sich noch mit Doktor? - Ein Professor muss man sein. Und wirft man mal einen Blick auf die Gästeliste von großen Veranstaltungen, dann gehört eigentlich "Professor" zur Normausrüstung eines Managers. Kein Wunder das vor einigen Wochen ein "Professor" bei der Verleihung irgendeines "Auto-Titels" (es gibt davon Unmengen, womit die Anzeigenkunden von Verlagen "bedankt" werden) auf die Bühne gerufen wurde, der diesen Titel gar nicht trägt. Das war dem peinlich. Und der Moderator entschuldigte sich dann auch hinterher für seinen Lapsus damit, dass so viele Professoren vor Ort seien, dass er gedacht habe... - Schon peinlich, wenn man heute keinen Professorentitel trägt. Aber noch peinlicher, wenn man ihn sich kaufen muss. - Es gibt aber auch Leute, Manager, die sich den Titel erarbeitet haben. So ist es zum Beispiel ein wesentliches Kriterium für die Berufung zum Honorar-Professor, dass man eine sechsjährige Lehrverpflichtung erfüllt hat. - Fragen Sie mal Prof. Göschel, wofür er z.B. - seinen Dr.-Ing e.h.-Titel erhielt? - (Aus der BMW-Pressemitteilung: "Mit der Valvetronic hat er den Stand der Technik mechatronischer Systeme im Motorenbau neu definiert. Durch konsequente Integration von Software, Elektronik und Mechanik zur Fahrzeugmechatronik hat Prof. Göschel das Unternehmen technologisch auf einen Spitzenplatz geführt," betonte Prof. Dr. Hartmut Hoffmann in seiner Laudatio.") - Wenn man nun weiß, wer wirklich die Valvetronic.... - Muss der Herr Prof. sich da nicht ein wenig schämen, wenn er hier liest, was der Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Technischen Universität München einem anderen Manager - einem "echten" Doktor-Ingenieur - Anfang Mai 2005 in einer Rede (u.a) sagte: "Als Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften beglückwünsche ich Sie, lieber Herr Dr. Reitzle, zur akademischen Würde des Honorarprofessors. Sie werden Mitglied des Kollegiums einer Fakultät mit großer Zukunft, und ich beglückwünsche die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, dass sie mit Ihnen eine Persönlichkeit in ihr Kollegium aufnimmt, mit der sie künftig nach innen wie nach außen noch stärker wird leuchten können." - Dr. Reitzle hat sich mit einer Rede bedankt, die ich nachstehend - um kleine Schlenker gekürzt - deshalb veröffentliche, weil da auch etwas von der Persönlichkeit des Ausgezeichneten ausgezeichnet rüber kommt. Dr.-Ing. Wolfgang Reitzle sagte:

"Der Stein und das Ganze -
Gedanken zu einer neuen Innovationskultur
 

Glückliche, jubelnde Menschen, weil weißer Rauch aus einem römischen Schornstein strömt. Lebendige Geschäftigkeit, freundliche Gesichter und hilfsbereite Service-Mitarbeiter im ehemals kommunistischen China: ich hatte in diesen Tagen immer wieder diese beiden Bilder vor Augen. Dabei stammt das eine aus den Medien. Das andere aus eigener Anschauung.
 

Wenn mich ein Thema innerlich beschäftigt, dann bringe ich auch ganze andere, scheinbar völlig abgelegene Themen, gedanklich damit in Verbindung. „Innovation in Deutschland“ zum Beispiel. Die bekommt dann auf einmal etwas zu tun mit Peking und mit dem Papst. Denn hier wie dort – auf dem Platz des himmlischen Friedens ebenso wie auf dem Petersplatz – sind „Menschen in Bewegung“, im Aufbruch. Sie machen einen zuversichtlichen und vor allem tatkräftigen Eindruck.

Aber in Deutschland? - Keine Spur vom chinesischen Enthusiasmus! Und was den Papst betrifft, gewinnt man eher den Eindruck: es ist den Deutschen irgendwie unangenehm, dass da nun einer der ihren auf den Heiligen Stuhl berufen wurde.

Dort schauen Menschen nach vorne, hier ziehen sie den Kopf ein. Dort Enthusiasmus und Begeisterung, hier Lähmung und zähe Diskussion.

Woran liegt das? Was fehlt den Deutschen? Und: Was können Wissenschaft und Wirtschaft, was können beide gemeinsam tun, damit auch in Deutschland wieder mehr Bewegung in die Menschen kommt?
So ist das mit der Wirklichkeit: Vielleicht gibt es sie tatsächlich - „objektiv“ sozusagen. Was die Menschen aber davon verstehen, das ist doch wohl vor allem die Wirkung dieser Wirklichkeit. Es ist das, was über den Apparat der Sinne, des Denkens und Fühlens bei ihnen „ankommt“. Einiges davon lässt sich messen, wiegen, zählen. Anderes entzieht sich solch quantitativer Erfassung. Und selbst das, was sich messen lässt, ist mit dieser Messung ja noch keineswegs komplett beschrieben.

Und sogar weitaus einfachere Dinge als das rätselhafte Wesen der Zeit sind durchs reine Messen, Zählen und Wiegen nicht unbedingt komplett erfassbar. Steine zum Beispiel.

An einem Stein erklärte uns ein Gastdozent - ich war damals Student - beispielhaft die molekulare und atomare Struktur aller Materie und das Phänomen der Kernkraft, von der er sagte, sie sei es, die die „Welt im Innersten zusammenhält“. Und er hielt das für eine im Wesentlichen komplette Darstellung der Wirklichkeit.

Und manch einer glaubte ihm das. Einige Kommilitonen aber ahnten schon damals dunkel: Das kann noch nicht alles gewesen sein! Sie erwarteten mehr von der Physik. Sie erwarteten Antworten auf die wirklich wichtigen Fragen, auf jene Fragen, die der große amerikanische Physiker John Wheeler die RBQs nennt – die „really big questions“.
Die wichtigsten davon lauten:

<> Wie kommt es zu Existierendem?
<> Woraus besteht alles Seiende am Ende?

Und vor allem:

<> Was gibt die Bedeutung?

Ich finde, Wheeler hat Recht: Um die Klügsten, die Interessiertesten, die Motiviertesten an sich binden zu können, muss sich die Wissenschaft etwas trauen. Sie muss sich trauen, die großen Fragen zu stellen – auch wenn manch eine Antwort vielleicht niemals gefunden wird! Die Physik, alle Natur- und Technikwissenschaft, muss zugleich auch Meta-Physik sein. Nur so bleibt sie anziehend.

Vor allem sollte sie stets das Ganze im Auge behalten – sozusagen eine „holistische“ Sicht der Welt erlernen und lehren, die im Stande ist, zusammen zu sehen, was zusammen gehört.

Denn die Alternative ist das, was der Gastdozent für Erstsemester unter Physik verstand: reine „Steine-Wissenschaft“!

Achtzig Jahre nach Heisenbergs Unschärferelation gerät schnell in Vergessenheit, dass in Wahrheit wohl nicht einmal die Steine so einfach funktionieren, wie man sich das früher vorstellte – jedenfalls nicht die kleinsten Bestandteile dieser Steine. Ihr Verhalten ist eben nicht präzise prognostizierbar, sondern bestenfalls als Wahrscheinlichkeit anzugeben.

Das heißt: Die Wirklichkeit bleibt - immer auch - unberechenbar und nur das macht sie spannend! Reine „Steine-Wissenschaft“ hingegen ist nur nicht angemessen, sie ist auch sterbenslangweilig – jedenfalls aus Sicht der meisten jungen Menschen.

Ich frage mich deshalb: Ist es wirklich ein Wunder, wenn den stein-wissenschaftlichen Fakultäten der Nachwuchs abhanden kommt? Könnte es sein, dass es an dieser mangelnden Spannung liegt, wenn auch der Gesellschaft insgesamt die Impulse ausgehen und am Ende sogar die Phantasie, von der schon Einstein sagte, sie sei „wichtiger als Wissen.“

Denn so wichtig das akribische Messen und Zählen auch ist: „das Neue“ kommt auf andere Weise in die Welt. Denken Sie etwa an Galileo Galilei: Er hatte noch keine Stoppuhr, und deshalb nutzte er den Takt eines Liedes, um die Geschwindigkeit seiner Messingkugel auf der schiefen Ebene zu messen. Bei der Geburt der modernen Physik stand also auch die Musik Pate.

Das zeigt: Neues entsteht dort, wo Menschen experimentieren, wo sie zusammenbringen, was scheinbar nicht zusammen gehört; wo sie im Bekannten, das Unbekannte suchen und frei von Ängsten vorhandenes Wissen neu interpretieren können.

Wer beispielsweise den Erkenntnissen der Ingenieurswissenschaft in einem Unternehmen zu faktischer Relevanz verhelfen will, der muss auch gute Antworten haben auf menschliche Fragen: „Wie kann ich meine Ziele verwirklichen? Was muss ich tun, um andere zu überzeugen? Und auch: Wie kann ich die Ideen anderer nutzen, um meine eigenen Pläne zu vervollständigen?“ oder: „Wie werde ich kritikfähig, wie lerne ich reden, wie zuzuhören, damit am Ende die beste Lösung für alle gefunden wird?“

Die Studentinnen und Studenten von heute, die morgen als Ingeneurinnen und Ingenieure Führungsaufgaben in Unternehmen wahrnehmen wollen, brauchen als Rüstzeug mehr als ihr Fachwissen. Sie brauchen zusätzlich solides Wissen über die Funktionsweise sozialer Systeme, sie brauchen Kenntnisse der Kommunikations-wissenschaft und sie brauchen – vor allem – eine Idee vom Sinn und Zweck ihres unternehmerischen Handelns.

Das heißt: Sie müssen nicht nur lernen, „Was“ in ihrem Beruf zu tun ist, sondern auch „Wie“ sie es bewerkstelligen können. Und das bedeutet: sie müssen einen Sinn und ein Bewusstsein für die kulturelle Seite ihrer Arbeit entwickeln – denn ohne ihn bleibt alle Wissenschaft und alle Wirtschaft kalt wie ein Stein.

Ich finde deshalb, dass es sich in besonderer Weise lohnt, über die Kultur im Unternehmen oder auch die Kultur in der Wissenschaft nachzudenken. Man könnte auch sagen: Kultur ist wie eine Sonnenbrille, durch deren spezifische Färbung Menschen die Welt betrachten. Sie ist der Sammelbegriff für den gemeinsamen Vorrat an Bildern und Wertvorstellungen, den eine bestimmte Gruppe von Menschen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort teilt. Sie ist der Orientierungsrahmen, in dem sich diese Menschen bewegen, an dem sie ihr Handeln ausrichten und der für sie funktioniert wie ein Kompass: die Kultur sagt, wo Norden und wo Süden ist.

Sie gibt den Menschen eine Richtung, sie gibt ihnen eine Antwort auf die Frage: Wozu? Wozu arbeite ich in diesem Unternehmen? Wozu gibt es dieses Unternehmen? Wozu studiere ich Ingenieurswissenschaften? Wozu dient diese Wissenschaft überhaupt?

Für das Thema Innovation ist die Existenz solcher Perspektiven und Orientierungsrahmen von außerordentlicher Relevanz. Denn nur wo Orientierung ist, da ist auch Freiheit. Nur wo Struktur ist, entfaltet sich auch Kreativität. Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch aussieht, ist in Wahrheit ein eng verzahntes Miteinander.

Denn wo immer Sie von Menschen „Neues“ erwarten, wo immer Sie herausragende Leistungen und „Besonderes“ verlangen, müssen Kreativität und Freiheit nicht nur erlaubt und gewollt sein. Sie müssen auch gesichert werden.

Für die freie Wissenschaft gilt ebenso wie für kreative Unternehmen: Wer „Spiel-Räume“ schafft, der muss auch „Spiel-Regeln“ definieren.

In den Unternehmen wird das häufig vergessen.

<> Es geht eben nicht, dass der Chef von den Mitarbeitern einerseits verlangt: „Denkt Euch mal was Neues aus! Seid kreativ!“ Und dann andererseits Fehler und Irrtümer sanktioniert. In einer Kultur der Kreativität müssen Fehler erlaubt sein. Es muss klar sein: Sie sind die Geburtshelfer des Fortschritts – nicht seine Feinde!

<> Und es geht eben nicht, dass einerseits neue Ideen gefordert werden, andererseits aber nur bestimmte Ebenen der Unternehmenshierarchien darüber nachdenken dürfen – in abgeschotteten Innovationszirkeln, zu denen der Großteil der Belegschaft keinen Zutritt hat.

<> Und es geht eben nicht, dass in Meetings und Besprechungen immer nur die Vielredner zum Zuge kommen, die Ideen der Zurückhaltenderen jedoch nicht gehört werden.

Und es geht eben nicht, dass immer nur die schon bekannten Lösungen neu probiert oder leicht verändert werden, weil das natürlich ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Und dass demgegenüber die wirklich „anderen“, die neuen Vorschläge von vornherein chancenlos sind, weil sie als „zu riskant“ gelten.

Dies zu verhindern und das Neue regelrecht hervorzulocken, das freie Spiel, das „Experiment mit den Stöcken“ sozusagen, zu fördern – genau das ist die Aufgabe der Kultur. Es gibt Kulturen, in denen ist dies möglich, und es gibt andere – in der Wirtschaft ebenso wie in der Wissenschaft und der Gesellschaft insgesamt – da ist das nicht möglich. Die Kultur entscheidet!

Und mehr noch: Sie verleiht die Kraft! Sie erlaubt und sichert nicht nur, sie kann auch beflügeln. Denn der Kern jeder funktionierenden Kultur ist eine positive Idee von der Zukunft – man könnte auch sagen: eine Vision.

Ich weiß: Viele finden den Begriff problematisch. Angesichts von fünf Millionen Arbeitslosen und einem wankenden Sozialstaat verlangen sie eher „handfeste Rezepte“ als „Visionen“.

Aber ich weiß auch: Gerade in Zeiten der Krise sind Visionen wichtig. Lebenswichtig. Oder geht es wirklich ohne Vision? Ohne die Idee einer Bedeutung?

Natürlich lässt sich ein Berg besteigen mit der Konzentration auf die jeweils folgenden drei Höhenmeter. Ein Schritt nach dem anderen. Doch selbst, wer so steigt und niemals an den Gipfel denkt, geschweige denn „vorfühlt“, wie es sein wird dort oben, auch der folgt insgeheim einer Vision: seinem inneren Bild des pragmatischen Ausdauersportlers.

Wäre es anders, käme er oben an ohne Stolz und Freude zu empfinden. Und wer weiß: vielleicht geht auch das, aber - wozu?

Der Wahl-Münchner Thomas Mann hat in seinem „Zauberberg“ ausgerechnet am Beispiel eines jungen Ingenieurs geschildert, wo es hinführen kann, wenn eine Kultur auf diese Frage nach dem Ziel und Zweck keine Antworten mehr anzubieten hat. „Der Mensch“, schrieb er dazu, „lebt nicht nur sein eigenes Leben, sondern – bewusst oder unbewusst –  immer auch das seiner Epoche und Zeitgenossenschaft.“ Und wenn diese Zeit der Frage „wozu?“ „bei aller äußeren Regsamkeit am Ende doch nur ein hohles Schweigen entgegensetzt“, dann sind eben gerade die empfindsameren Menschen kaum mehr „zu bedeutender, das Maß des schlechthin Gebotenen überschreitender Leistung aufgelegt.“

Genau das aber ist es, was diese Gesellschaft, was die globalisierte Gesellschaft insgesamt heute dringender denn je braucht: „bedeutende, das Maß des schlechthin Gebotenen überschreitende Leistung“ – man könnte auch sagen: Innovation!

Und dass ihnen das so schwer fällt, ist eben in erster Linie nicht ein Problem der Steuerpolitik oder der Lohnnebenkosten – wenngleich dies natürlich sehr wichtige Aspekte des Themas sind. Es ist vor allem ein Problem der Kultur!

<> Es ist ein Problem der Kultur, wenn die Wirtschaft nicht brummt, weil die Menschen nur noch Mittelmäßiges zu denken imstande sind und die Innovationen ausbleiben.

<> Es ist ein Problem der Kultur, wenn jeder siebte in Deutschland promovierte Nachwuchswissenschaftler in die USA geht. Und wenn die Deutschen dort die viertgrößte Gruppe stellen. Drei von vier Nobelpreisträgern deutscher Herkunft arbeiten in Amerika. Und mindestens ein Viertel aller deutschen Forscher, die ins Ausland ziehen, bleiben auch dort.

<> Es ist ein Problem der Kultur, wenn die deutschen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung derzeit bei weniger als 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen, während es Ende der achtziger Jahre immerhin schon mal 2,8 Prozent waren. Japan und Schweden haben die Drei-Prozent-Marke bereits erreicht – oder klar überschritten.

<> Und es ist ein Problem der Kultur, wenn auf der einen Seite in den nächsten fünf Jahren rund 200 000 zusätzliche Fachkräfte in der Forschung und Entwicklung nötig wären, um etwa zu Japan aufschließen zu können, das Gros der Abiturienten aber lieber einen großen Bogen hauptsächlich um die Naturwissenschaften macht.

Ich bin überzeugt: Wer Innovation will, muss sich um die Kultur kümmern – um die Innovationskultur! Doch natürlich ist das einfacher gesagt als getan. Denn eine solche Kultur lässt sich nicht einfach „erfinden“ oder „verordnen“. Zwar wünscht sich das heutzutage manch einer: dass man nach dem Rezepte-Muster verfahren könne: „Man nehme: Einige bewährte Werte, diesen oder jenen Verhaltenscodex, eine gehörige Prise Symbolik und schon sei sie fertig die Innovationskultur.

Das wird nicht funktionieren. Kultur ist nichts Artifizielles. Sie ist – wenigstens in Teilen – immer schon da. Jeder Kulturaufbau beginnt deshalb mit Archäologie, mit der Suche nach den vorhandenen Fundamenten.

Was die Innovationskultur in Deutschland betrifft hat sich an der Technischen Universität München Professor Wengenroth dieser wirtschaftshistorischen Aufgabe gewidmet. Und gemeinsam mit seinen Studenten hat er folgendes herausgefunden:

die bislang – durch zwei Weltkriege und den Aufbau Ost – erlernte deutsche Innovationskultur ist eher konservativ. Sie ist auf Wiederaufbau und Weiterentwicklung von Technologien ausgerichtet, nicht auf originäre Innovation. Es entspricht zunächst dieser Kultur, Spitzentechnologien zu adaptieren.

Um also kurzfristig zu mehr Wachstum und neuer Dynamik zu kommen, geht es in dieser Sicht vor allem darum, möglichst früh auf bereits fahrende Züge aufzuspringen anstatt ihnen hinterher zu sehen. Das heißt: es muss der möglichst frühe Einstieg in schon ausgereifte Technologien gefördert werden – also dann, wenn die ersten Produkte mit Spitzentechnologie ihren Produktzyklus starten.

Ich denke: das ist richtig. Aber es reicht nicht!

<> Wenn auf lange Sicht so etwas wie das Auto in Deutschland noch einmal erfunden werden soll,
<> wenn hier in Deutschland Innovationen wie der Computer oder neuartige Biochips auf den Weg gebracht werden  sollen,
<> wenn in einigen Jahren auch mal wieder ein deutscher Nobelpreis möglich sein soll,

dann werden die Gemeinschaften in Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft auf die Frage des „Wozu“ die Antwort nicht schuldig bleiben dürfen.

Das ist so wie in der Geschichte von den Steinmetzen, die Sie vielleicht kennen:

„Es waren einmal drei Steinmetze, die arbeiteten an der Großbaustelle des Kölner Doms. Ein Märchenerzähler fragte den Ersten: "Was tust Du da?" Er antwortete: "Das siehst Du doch. Ich behaue Steine. Die beiden muss ich noch, dann habe ich endlich Feierabend."
Der Märchenerzähler ging weiter und fragte den Zweiten. "Das siehst Du doch. Ich bin Steinmetz und mache eine Statue. Ist zwar ‘ne harte Arbeit, wird aber gut bezahlt. Schließlich habe ich eine Frau und vier Kinder. Die brauchen was zu Essen."
Der dritte Steinmetz legte kurz den Hammer nieder, wischte sich den Schweiß ab und zeigte mit Stolz nach oben: "Das siehst Du doch. Ich baue eine Kathedrale."

Welche Kathedrale sollen die Studentinnen und Studenten zum Beispiel dieser Universität bauen? „Wozu“ sollen sie sich hier mit Betriebs- oder Ingenieurswissenschaften abmühen?

Meine ganz persönliche, wenn auch nicht individuelle, Antwort lautet: Die Kathedrale des 21. Jahrhunderts ist der Mensch selbst. Und ich sage das nicht als Christ oder Menschenrechtler, sondern ganz nüchtern als Mann der Wirtschaft: „Die wichtigste Potenzialquelle der kommenden Jahrzehnte für Innovation und Wachstum ist der Mensch selbst.“

Ein Blick auf die so genannten „langen Konjunkturwellen“ macht das deutlich. Sie wurden um 1920 durch den russischen Wirtschaftswissenschaftler Nikolai D. Kondratieff entdeckt und heißen deshalb auch Kondratieff-Zyklen. Manches an dieser Theorie ist heute veraltet. Der Grundgedanke aber ist – wie ich finde – noch immer interessant. Er geht von fünf solcher Zyklen aus, die in den letzten 250 Jahren empirisch nachgewiesen wurden:

<> Erstens: Die Erfindung der Dampfmaschine und damit der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft.
<> Zweitens, ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Eisenbahn und Stahlschiff. Sie erschließen neue Transportmöglichkeiten, neue Märkte und eine neue Infrastruktur.
<> Drittens - ab ca. 1900 – führen neue Produkte rund um Elektrizität und Chemie zu einem Quantensprung. Und zu mehr Wohlstand für immer mehr Menschen.
<> Viertens: Die Petrochemie und das Auto. Individuelle Mobilität, neue Fabriken, Zulieferer und Dienstleister sowie eine ganz neue Form von Tourismus sind die Folge.
<> Fünftens schließlich beginnt um 1970 erstmals ein neuer Langzyklus mit der Verwertung einer immateriellen Größe: Information! Der produktive und kreative Umgang mit Information wird zum Erfolgsmuster. Die Informatik stellte dazu das wissenschaftliche Fundament, den technologischen Impuls brachte die Entwicklung des Computers.

Der nächste – der sechste – Langzyklus hat erst vereinzelt begonnen und gewinnt seine Dynamik wiederum durch eine immaterielle Größe: Die individuelle und soziale Gesundheit. Denn sie ist die verbindende Größe, die Basis für alle wichtigen Zukunftstrends, die sich am „menschlichen Maß“ orientieren. Gesundheit, in einem sehr ganzheitlichen Sinne verstanden, ist die Voraussetzung dafür, dass die Produktivitätsreserven bestmöglich genutzt werden können, die im Menschen selbst und in seiner Interaktion mit anderen noch schlummern.

Um eine Vorstellung von diesem Potenzial zu bekommen, reicht ein Blick auf die Kosten akuter und latenter Krankheit: Addiert man die Summe aller quantitativ erfassbaren destruktiven Erscheinungen der modernen westlichen Gesellschaften, dann lässt sich der volkswirtschaftliche Schaden auf rund 10.000 Milliarden Dollar festlegen. Und das ist rund ein Drittel des Weltsozialprodukts!

Eingerechnet sind hier alle produktivitätshemmenden Phänomene wie Diebstahl, Sabotage, Versicherungsbetrug, krankheitsbedingte Ausfallzeiten, Therapiekosten oder auch die Kosten für den Strafvollzug. Denn ob Sie jemanden für ein Jahr einsperren oder ihn für ein Jahr nach Harvard schicken – die Kosten sind ähnlich hoch!

Allein bei VW etwa belastet jeder Prozentpunkt Krankenstand das Unternehmen mit rund 50 Millionen Euro im Jahr. Insgesamt erleidet die deutsche Wirtschaft aus krankheits- und unfallbedingter Abwesenheit und aus den vorzeitigen Renteneintritten wegen Berufsunfähigkeit einen Gesamtschaden von rund 200 Milliarden Euro (1994) pro Jahr.

Nicht eingerechnet ist hierbei der Schaden durch Frustration und Resignation: Zwischen 30 und 50 Prozent aller Berufstätigen machen nur noch den so genannten „Dienst nach Vorschrift“ und haben innerlich bereits gekündigt. Ihr Leistungspotenzial steht den Unternehmen nur noch zu einem Bruchteil zur Verfügung.

Welche Innovationen, Dienstleistungen und Märkte werden nun dazu beitragen, dieses Potenzial – wenigstens in Teilen – zu aktivieren? Was sind die tragenden Säulen der nächsten Konjunkturwelle?

<> Erstens: Der klassische Gesundheitssektor. Die Zahl der Erwerbstätigen in diesem Sektor hat allein in Deutschland zwischen 1983 und 1993 um über 600 Prozent zugenommen.

<> Die zweite tragende Säule der nächsten Konjunkturwelle wird der neu aufkommende Gesundheitssektor sein und hier insbesondere die Biotechnologie – zusammen mit der Nanotechnologie. Schon in den kommenden fünf Jahren ist – im weltweiten Maßstab - mit einer Marktverdoppelung auf 265 Milliarden Dollar zu rechnen.

<> Die dritte Säule bleibt auch weiterhin die Informationstechnologie – mit dem Akzent auf Software und Content. Mit jährlichen Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen von ca. 240 Milliarden Dollar und noch immer überdurchschnittlichen Wachstumsraten gehört sie auch im 21. Jahrhundert zu den wichtigsten Stützen der Weltwirtschaft.

Die Entfaltung all dieser Technologien benötigt eine Grundlage, ohne die das alles nicht möglich ist: Und dabei handelt es sich um die vierte Säule künftigen Wachstums - das Thema Energie! Denn: Die sichere und nachhaltige Energieversorgung ist auf Dauer die Bedingung der Möglichkeit für Wachstum überhaupt.

Dies gilt umso mehr als die bisherigen Energiereserven zurückgehen: Spätestens ab 2040 werden die fossilen Brennstoffe so teuer, dass eine ausreichende Versorgung alter und neuer Verbraucher nicht mehr sicherzustellen ist – mögen sich Experten auch um einige Jahre mehr oder weniger streiten. Das Zeitalter der fossilen Brennstoffe geht vorüber!

Alternative Energieformen zählen deshalb ganz sicher zu den wichtigsten Wachstumstreibern der Zukunft. Von immenser Bedeutung wird in diesem Kontext neben und mit der Sonnenenergie eine zweite bislang unerschlossene Energiequelle werden: Der Wasserstoff. Er steht mit einer gewissen Zwangsläufigkeit am Ende der Energiegeschichte.

Und: Er eröffnet den Menschen erstmals die Aussicht auf eine demokratische Energieversorgung. So wie im Internet potenziell jeder Mensch mit jedem anderen dezentral verbunden ist, so ist auch die Versorgung der Menschen mit Wasserstoff über eine dezentrale Organisation vorstellbar.

Wasserstoff kommt schließlich überall vor und ist nicht an zentrale Förderstätten gebunden. Das Ergebnis wäre analog zum Worldwide Web ein Hydrogen Energy Web, das weltweite Wasserstoffenergienetz. Es hätte unglaublich weitreichende Folgen für die gesellschaftlichen Organisationsformen bei uns, noch mehr aber in den heutigen Entwicklungsländern.

Das alles zusammengenommen bedeutet: Wer Innovationen zielgerichtet, lohnend und vor allem sinnvoll anregen und entwickeln will, sollte sich auf die Themen Gesundheit im ganzheitlichen Sinne, Information und Energie konzentrieren. Hier liegen die Wachstumsmärkte der Zukunft!

Und das ist sozusagen nur die Sicht aus den Unternehmen oder auch den wissenschaftlichen Fakultäten nach außen. Hinzu kommt die andere Sicht: Der Blick auf sich selbst!

Denn auch Unternehmen und Universitäten können aus der „Potenzialquelle Mensch“ innovative Kraft schöpfen. Es werden diejenigen langfristig am besten da stehen, denen es gelingt, bislang ungenutzte Potenziale wirkungsvoll zu entfalten. Diejenigen also, die das Selbstentwicklungsbedürfnis ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfüllen. Die ein qualifiziertes Weiter- und Ausbildungsangebot machen, die ein Arbeits- und Studienumfeld bieten, das persönliche Entwicklung fördert und nicht hemmt.

Gerade an einem Hochpreis-Standort wie Deutschland wird es darauf ankommen, jene Menschen zu gewinnen, die sich für eine Sache persönlich engagieren und deshalb zusammen mit Gleichgesinnten jene Innovationen zustande bringen, ohne die dieser Standort extrem gefährdet ist.

Und: Unternehmen, die aus dem Gesundheitsthema im besten Sinne „Kapital schlagen“ wollen, müssen sich auch klar machen, dass sie kein Zweck an sich sind. Unternehmen sind ein Mittel zum Zweck. Und der kann am Ende nur sein: das Wohl des Menschen zu mehren – aller Menschen.

So jedenfalls verstehe ich den in Mode gekommenen Begriff der „Nachhaltigkeit“. Er besagt im Kern nichts anderes als die simple Erkenntnis: Ein Unternehmen muss so wirtschaften, dass es den Gemeinschaften, von denen es lebt, nicht mehr nimmt als es ihnen zurückgibt.

Und zu diesen Gemeinschaften zählt eben auch – aber keineswegs nur – die ökologische Gemeinschaft. Es zählen dazu die natürlichen Lebensgrundlagen, deren Bewahrung im langfristigen Interesse der Unternehmen liegt und natürlich auch im langfristigen Interesse all jener, denen dieses Unternehmen gehört.

Im selben Umfang gilt das für die sozialen Gemeinschaften, in die das Unternehmen eingebettet ist, es gilt für Fragen nach den Arbeitsbedingungen bei der Rohstoffgewinnung, für Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen und die faire Vertragsgestaltung mit Lieferanten.
Denn mit den Unternehmen und der Gesellschaft ist es so, wie mit dem viel zitierten Mehrfamilienhaus: Wenn sich jeder auf die Pflege der eigenen vier Wände konzentriert, wird er lange das Gefühl von Geborgenheit und heiler Welt haben. Eines Tages aber fällt ihm die Decke auf den Kopf oder – schlimmer noch: die Fundamente brechen weg.

Denn es ist eben noch nicht an alle gedacht, wenn nur jeder an sich denkt!

Das Gemeinsame braucht eine besondere Aufmerksamkeit; auch in dieser Hinsicht ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Auch hier bestätigt sich, was schon im ersten Semester meines Studiums dunkel zu erkennen war: Die Wirklichkeit erschöpft sich nicht in der Addition molekularer Details. Sie besteht vor allem aus Zusammenhängen, Ursachen, Wirkungen und: Bedeutungen.

Auf sie kommt es an: Nur Gemeinschaften, die ihre eigene Bedeutung kennen, können den Menschen etwas bedeuten.

Das ist es, was heute Chinesen und Katholiken verbindet. Und das ist es, was heute über die Innovationsfähigkeit von morgen entscheidet.

Die Wiederentdeckung des menschlichen Maßstabs – und zwar nicht als Widerspruch zu den Zielen von Fortschritt, Wachstum und Rentabilität, sondern als seine Voraussetzung: das ist, aus meiner Sicht, die Richtung in der auch deutsche Innovationspolitik und Innovationskultur ihre Antworten suchen muss auf die Frage: „Wozu“?

Denn – da bin ich sicher - immer mehr Menschen werden den Grad ihres Erfolges nicht mehr nur am Stand ihres Bankkontos messen, sondern so, wie ihn der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson formuliert hat:

„Erfolg“, schrieb er im Jahre 1879,

„Erfolg hat derjenige gehabt,
<> der die Achtung kluger Männer und die Liebe der Kinder gewann,
<> der seinen Platz ausgefüllt und seine Aufgaben bewältigt hat,
<> der die Welt besser zurücklässt, als er sie vorfand, sei es durch eine verbesserte Mohnsorte, ein vollkommenes Gedicht oder eine gerettete Seele,
<> der stets die Schönheit der Natur zu schätzen wusste und das auch zu erkennen gab;
der DAS BESTE in anderen sah – und selbst sein BESTES gab.“

 

 

Rede überarbeitet
und um für die Aussage unwesentliche Passagen gekürzt von:
 
MK
/ Wilhelm Hahne

PS: Alle Reden, in gesamter Länge, die an diesem Tag, dem 9. Mai 2005 - zu dem oben genannten Anlass - gehalten wurden, sind  gedruckt  über die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Linde AG, Wiesbaden erhältlich
05-08-15/04


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