Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Reitzle: Seine Rede anlässlich der Feierlichkeiten zum 30jährigen Jubiläum der ams -Leserwahl „Beste Autos“ am 1. Februar 2006 in Stuttgart

Ich las es in einer der letzten "auto motor und sport"(5/2006) auf Seite 152: "Auch Reitzle ist jetzt, wie er sagte, in einer anderen Welt, außerhalb der Autoindustrie. Einzige Ausnahme: 'Unsere Gabelstabler werden von Porsche designt.' - Aber ich las nicht, was Reitzle sonst gesagt hatte. Dabei bot schon diese Auffassung von "einer anderen Welt" einen interessanten gedanklichen Ansatz: die "Autowelt" ist demnach eine eigene Welt, die sich deren "Bewohner" selbst gebastelt haben und nach ihren eigenen Gesetzen beherrschen? - Und als ich dann bei einem zufälligen Gespräch einen Pressechef fragte, wie ihm denn die Rede des Herrn Reitzle in Stuttgart gefallen habe, da musste der mir gestehen: "Die habe ich nicht hören können, weil ich meinen Chef am Bahnhof Stuttgart abholen musste - und der Zug hatte Verspätung." - Was sonst? - "Dann hat Ihr Chef die Rede auch nicht gehört?" - "So ist es." - Betrachten Sie also den Abdruck der Reitzle-Rede von mir als kleine Serviceleistung für die Automobilindustrie und all' die Manager, die bei der Stuttgarter Feier nicht dabei sein konnten. - Aber natürlich habe ich mit dieser Veröffentlichung auch an meine interessierten Leser gedacht, zumal in der neusten Ausgabe von "ams" auch Daten zu finden sind, auf die sich die Rede des Herrn Reitzle bezieht.  - Aber die Rede fehlt. - Nachfolgend also die Rede als Lesestoff und Service:

"Das Ganze im Blick: 30 Jahre auto, motor und sport-Leserwahl"
 

06-03-10/02. - Herzlich lachen musste ich, als ich kürzlich diesen Cartoon sah: (Anmerkung: aus Copyright-Gründen entfällt die Darstellung des Cartons hier, ist aber für Leser mit Lebenserfahrung - und Fantasie - auch nicht zwingend erforderlich)

Es geht um etwas ganz alltägliches: Ein Kunde kommt zum Unternehmen und hat einen Wunsch. Den erklärt er mit Worten - so gut er kann!

Dann beginnt die „Stille Post“ im Unternehmen. Jeder beschreibt den Wunsch, wie er ihn verstanden hat. Mit seinen eigenen Worten. Dabei hat manch einer eine ausgeprägte Fantasie- und manch einer auch eigene Interessen.

…nur eines geht völlig verloren und wird während der ganzen Zeit nicht verstanden: Was der Kunde wirklich wollte!

Ich glaube: So ist es oft. Was sich Kunden wünschen, was ihre echten Bedürfnisse sind, das ist wohl in vielen Fällen mit Worten und statistischen Analysen weniger gut beschreibbar als mit Bildern. Und vielleicht kennen auch Sie das: Ist ein Wunsch erst einmal in Begriffe gefasst, wird er schnell unbegreiflich. Fast immer geht etwas verloren, wenn das Ganze nur als die Summe seiner Teile betrachtet wird.

Guten Tag, meine sehr geehrten Damen und Herren, lieber Herr ..., sehr geehrte......(Anmerkung: da hier Namen unwesentlich sind, habe ich sie entfernt)

30 Jahre ams-Leserwahl – das ist wirklich ein Grund zum Feiern und ein Grund, Sie – das Team der ams und aller Schwestertitel – ganz herzlich zu beglückwünschen, denn es bedeutet: Drei Jahrzehnte akribische Arbeit, drei Jahrzehnte Spitzenanalysen und geballte Kompetenz. Es bedeutet Fairness, Einsicht und Übersicht für alle, in deren Leben das Auto eine wichtige Rolle spielt.

Ich freue mich deshalb sehr darüber, dass Sie mich gebeten haben, hier und heute zu sprechen. Jetzt bin ich ja so etwas wie der ehemalige Schüler, der an seiner früheren Schule bei der Abschlussfeier der aktuellen Abiturklasse reden darf: Ich weiß in etwa, worum es geht, sitze aber nicht mehr selbst auf der Schulbank.

Und ich muss gestehen: Diese Rolle ist durchaus angenehm! Denn der „Ehemalige“ hat natürlich „gut reden“. Seine Leistungen müssen sich ja dem Urteil nicht mehr stellen, er kann frei sprechen, sozusagen „außer Konkurrenz“.

Ich habe mir die Freiheit genommen, hier nicht über Autos im engeren Sinne zu sprechen, sondern mehr über deren Image, also über das Bild, das Kunden von ihren Wünschen und Bedürfnissen haben, das Bild aber auch, dass sie sich von „ihren“ automobilen Favoriten machen und von den Marken, die dahinter stehen.

„Ich mag die Marke“ – zusammen mit den Antworten auf all die anderen Wählerfragen ergeben die Antworten der ams-Leserinnen und -Leser auf diese Frage eine Art Bild vom Bild. Sie vermitteln denen, die Autos entwerfen,entwickeln und produzieren eine recht präzise Idee vom Image, das ihre Marke bei jenen hat, die am Ende
über ihren professionellen Erfolg entscheiden: bei den Kundinnen und Kunden!

Das, meine Damen und Herren, ist – kurz gesagt – der unvergleichliche und in der Branche einzigartige Wert, den die
ams-Leserwahl aus meiner Sicht für automobile Profis auf der ganzen Welt hat: Sie war, ist und bleibt einer der wichtigsten Image-Gradmesser, die es in der Branche gibt!

Und das liegt wiederum daran, dass mit der ams-Leserschaft ja nicht „irgendwer“ sein Urteil abgibt. Sondern das sind rund 100.000 echte Auto-Enthusiasten. Menschen, die von Autos nicht nur viel verstehen, sondern auch eine besondere Leidenschaft für dieses Produkt mitbringen. Von Leuten also, deren Urteil von unschätzbarem Wert ist, weil es nicht nur rational und kompetent ist, sondern auch engagiert – was man ja nicht unbedingt von jeder
Studie behaupten kann, wenn ich nur an die aktuelle Diskussion um die Stiftung Warentest und deren Bewertung der WM-Stadien denke! Jedenfalls würde jemand wie Franz Beckenbauer den Machern der ams-Leserwahl niemals empfehlen, doch lieber die Qualität von Olivenöl zu beurteilen als die Qualität von Autos.

Deshalb übrigens habe ich – als ich noch zu den Automachern gehörte – in bestimmten Phasen das Abschneiden der ams -Wahl zum Kriterium für Bonuszahlungen an bestimmte Mitarbeiter gemacht. Andere haben das – wie ich weiß – auch getan, und es mag Ihnen, lieber Herr Ostmann, und Ihrem Team ein Gefühl von der Wertigkeit vermitteln, die Leserwahl zu einer Institution in der europäischen und sogar weltweiten Autoindustrie zu machen.

Ich finde: Diese Wahl hat sich in den letzten drei Jahrzehnten zu einem regelrechten Image-Barometer entwickelt. Wer es zu lesen versteht und vor allem regelmäßig auswertet, der kann darauf sehr frühzeitig erkennen, ob bedeutende Umschwünge in der Gunst der Kunden bevorstehen. Und er kann dies erkennen, schon bevor die ersten dunklen Wolken aufziehen, bevor die Zahl der Reklamationen steigt und die Zahl der Zulassungen sinkt.

Nehmen Sie beispielsweise das Thema Qualität. Mein Eindruck war immer: Wenn die ams-Leser Ihnen in dieser Disziplin die Note von einem Jahr zum anderen nach unten setzen, dann können Sie darauf gehen, dass Ihnen auf diesem Gebiet Probleme ins Haus stehen – und zwar auch dann, wenn Ihre eigenen, internen Frühwarnsysteme noch keine Alarmzeichen aus dem Markt erkennen lassen.

Das mag daran liegen, dass es bei der ams-Wahl ganz besonders um die gefühlte, die subjektive Qualität geht! Es geht um das, was die Kundinnen und Kunden hier und dort an Qualität spüren und darum, was sie vermissen. Das muss für Ingenieure nicht immer nachvollziehbar sein – aber es ist entscheidend für den Erfolg.

„Qualität + Emotion + Preis = Image – mit dieser Formel strukturiert die ams-Leserwahl die Antworten der Befragten. Sie geben zuerst ausführlich zu Protokoll, wie sie beispielsweise die Verarbeitung bewerten, wie zuverlässig und wie umweltfreundlich sie ein bestimmtes Modell finden, sie sagen am Ende auch ihre Meinung über das Preis-Leistungsverhältnis. Aber sie bewerten eben auch emotionale Gesichtspunkte wie Sportlichkeit, Aussehen und
fortschrittliche Technik.

Für mich war das immer ein sehr entscheidender Gesichtspunkt, wenn ich die ams-Leserwahl-Ergebnisse auf den Tisch bekam und mir gespannt die Tabellen und Grafiken ansah. Denn sicher: Da gab es zum einen die Betrachtung nach den aktuellen „Up’s and Down’s“ – ähnlich wie in den Charts der Pop-Musik. Und sicher: Da gab es immer wieder Grund zur Begeisterung über gelungene Hits, über beliebte Evergreens oder hoffnungsvolle Newcomer aus dem eigenen Haus.

So spannend dieser Wettbewerb in den einzelnen Leistungsklassen auch war, noch spannender war für mich immer die Frage: Wie erleben die Kunden unsere Produkte, sind sie noch mit Leidenschaft bei der Sache? Finden sie unsere Autos „sportlicher“ oder die der Konkurrenz? Was halten sie von unseren öffentlichen Auftritten – in der Werbung, aber auch im Motorsport? Mit einem Wort: Wie ist es um unser Image bestellt?

Denn das Bild der Marke, wie es in den Köpfen und Herzen der Kunden existiert, ist – so sehe ich es – in den letzten 30 Jahren immer wichtiger geworden. Objektive Leistungsvorsprünge vollziehen sich in immer kleineren, und übrigens auch immer unsichtbarer werdenden Bereichen, die Zyklen werden immer kürzer und auch preisliche Spielräume sind weitgehend ausgeschöpft. Deshalb eben werden Charakter und Faszinationsvermögen der Marke zum entscheidenden Faktor im Wettbewerb.

Allerdings: Markenpflege, finde ich, muss vor allem Produktpflege sein. Denn jede Marke ist ein Leistungsversprechen. Und wer mit seinen Produkten erfolgreich bleiben will, der muss dieses Versprechen immer wieder neu erfüllen; er muss die versprochene Leistung objektiv erbringen. Und: Er muss auch daran arbeiten, dass die Kunden diese Versprechen als erfüllt „erleben“!

Und dazu gehört eben mehr als technische Perfektion. Dazu gehört eine angemessene Kommunikation. Es gehört dazu ein passender Service. Und es gehört dazu ganz offenbar in zunehmendem Maße auch eine bestimmte Verfassung der Unternehmen, eine bestimmte Kultur, die mit den Leistungsversprechen der Marke kompatibel sein muss.

Mit dem Bild der Marke bei den Kunden, mit dem Image, ist es also genauso wie dem Bild in der Kunst, über die Karl Valentin sagte: „Sie ist schön, macht aber viel Arbeit!“ Auch Image macht Arbeit, noch mehr der Imagewandel.

Und da ich mir ja vorgenommen habe, hier keine Marke zu nennen, versuche ich es mal so: Es kommt bei dieser Leserwahl nicht von ungefähr, dass wieder der Hersteller mit den vier Ringen ganz vorne dabei ist, der ja einen grandiosen Imagewandel vollzogen hat, auf den vor 30 Jahren sicher noch niemand gewettet hätte. Das war harte Arbeit am Produkt, das waren Konsequenz und Ausdauer auf einem langen Weg, und das war auch: eine große Vision zu Beginn dieses Weges.

Meine Damen und Herren, ich weiß: Visionen stehen derzeit nicht besonders hoch im Kurs. Stattdessen wird gerne jener Kollege zitiert der gesagt haben soll: „Visionen? Wenn ich Visionen habe, gehe ich zum Arzt!“ Besonders in Deutschland scheint die Auffassung verbreitet, der so genannte pragmatische Typus – manche nennen ihn auch den technokratischen – sei der bessere Krisenmanager. Ich habe da meine Zweifel.

Images machen Arbeit, ja. Sie erfordern aber auch Mut. Den Mut zu Visionen, den Mut zu neuen Wegen und zum Außergewöhnlichen und zum Streben nach großen Zielen.

Ich bin überzeugt: Ohne diese Qualitäten sind auf die Dauer kaum die Köpfe, ganz sicher aber nicht die Herzen der ams-Leserinnen und Leser zu gewinnen. Und auch deshalb freue ich mich über dieses Geburtstagsfest: Weil hier auch drei Jahrzehnte Mut zu automobiler Vision gefeiert werden, drei Jahrzehnte, in denen es darum ging, zu verstehen, was die Kundinnen und Kunden wirklich wollen und zu verstehen, welches Bild sie von der eigenen Marke haben.

Bis heute ist das eine schwierige Aufgabe geblieben, die nur mit viel Kompetenz und mit noch mehr Leidenschaft für die Sache zu bewältigen ist. Bei auto, motor und sport, beim Redaktionsteam hier in Stuttgart, in den europäischen Schwesterredaktionen und vor allem bei Ihren Leserinnen und Lesern hat beides einen sicheren Platz.

Darauf kann sich die Welt des Automobils – bei allem Wandel – wirklich verlassen, und es ist gut, dass zu wissen.

Ich wünsche Ihnen deshalb auch für die kommenden 30 Jahre alles Gute, behalten Sie das Ganze im Auge und machen Sie genau so leidenschaftlich weiter wie bisher!

MK/Wilhelm Hahne

PS: Ich kann mich hier eines Kommentars enthalten. Die aktuell in dieser Serie von mir veröffentlichten Geschichten sind Kommentar genug. Und die aktuelle Entwicklung bei Linde zeigt, was die deutsche Automobilindustrie mit einem Manager wie Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Reitzle durch das Verschieben in eine andere Branche verloren hat. - Einen Macher! - Vielleicht treffe ich ihn ja auf der nächsten IAA an einer Bratwurstbude zu einem Meinungsaustausch. -  (s. meine zeitlose Geschichte von der letzten IAA in 2005)


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