Wenn zwei Fachleute miteinander diskutieren...

...muß daraus noch lange keine Fachdiskussion entstehen. Kann sein, dass die Diskussionspartner nur Parolen, intelligent verschachtelte Worthülsen austauschen, so tun als wenn sie... - Das hört sich gut an, das lässt sich gut lesen, das macht einfach "einen schlanken Fuß". Und wenn diese Leute dann noch die richtige Berufsbezeichnung auf ihrer Visitenkarte stehen haben, vielleicht einem bekannten Verlag, der Redaktion einer bekannten Zeitung, oder gar einer Universität oder einer anderen Fachorganisation angehören, dann wird man doch ihre Darstellung, ihre Sicht der Dinge ernst nehmen. Wie sehr man so etwas ernst nehmen muß, zeigt das nachstehende Beispiel, frisch aus dem Leben gegriffen.

Fachgespräch über das Fahren im Nebel

99-10-16/06. Da macht sich ein Chefredakteur um das Leben seiner Leser Sorgen, will Überlebenshilfe bieten. Anlaß sind ihm die Zahlen von Toten bei Nebelunfällen. In 1998 starben nach seinen Informationen 442 Menschen. "1997 waren es 704 Menschen, die im Nebel starben bzw. verletzt wurden", macht Günter Wiechmann, Chefredakteur der "Auto Zeitung" in einem Brief an den Verkehrspsychologen Dr. Peter Kiegeland der Universität Gesamthochschule Kassel deutlich.

Und er fragt in seinem Brief (in Heft Nr. 22, vom 13. Oktober zu lesen): "Worauf sollen die Autofahrer achten, auf wen können sie sich eigentlich verlassen außer auf sich selbst?"

Und Dr. Peter Kiegeland antwortet mit einer Wiederholung der Frage: "Auf wen können sich Autofahrer in dieser Situation verlassen außer auf sich selbst? Die Antwort: auf niemanden sonst."

Nun wissen wir eigentlich, was uns auch schon voher unser gesunder Menschenverstand sagte. Wenn es da im Brief des Herrn Günter Wiechmann, ausgewiesener Automobil-Fachmann und seit Jahrzehnten Chefredakteur, eine Stelle gäbe, die beim aufmerksamen Leser Hoffnungen weckt. Wiechmann fragt:

"Ist nicht die Industrie gefordert? Schließlich kann es nicht nur Fahrern von Luxusklasse-Fahrzeugen vorbehalten bleiben, ein Abstandsradarsystem zu ordern. Bislang bietet nur Mercedes das 'Distronic' für 4524 Mark an."

Da kann natürlich Herr Dr. Peter Kiegeland als bedeutender Verkehrspsychologe nicht zugeben, dass er eigentlich davon keine Ahnung hat. Also formuliert er seine Antwort auf die Wiechmann-Frage sehr vorsichtig:

"Technische Unterstützung ist in Nebelsituationen wünschenswert. Vereinzelt ist sie schon verfügbar, wenn auch zu einem hohen Preis. Der technische Fortschritt läßt hoffen, dass leistungsfähige Systeme bald preisgünstiger werden und weite Verbreitung finden."

Aber nicht nur Dr. Peter Kiegeland ist auf dem Gebiet eines Abstandsradarsystems und seine Einsatzmöglichkeiten ohne tiefschürfendes Wissen, auch die Darstellung des Herrn Wiechmann, die die Mercedes-"Distronic" geradezu als ein Sicherheitssystem gerade bei Nebelfahrt erscheinen lässt, geht meilenweit an der Realität vorbei.

Aber es liest sich gut. Und die Industrie wird gefordert. Und nur reiche Leute können bisher... - Das macht sich für die Leser eines Drei-Mark-Fünfzig-Heftes gut. Und auch sein Diskussionspartner ist voller Hoffnung, dass... - Und beide beweisen damit, dass sie eigentlich keine Ahnung haben.

Denn, lieber Herr Wiechmann, die "Distronic" ist kein Sicherheits-, sondern ein Komfortsystem. Und dass das ein Abstandswarnsystem ist, ist gerade bei Nebel seine Schwäche. Man sollte jedem Besitzer einer solchen "Innovation" empfehlen, es im Ernstfall - also bei Nebel - abzuschalten. (Wie das auch DaimlerChrysler - Mercedes - tut!)

Aber dazu muß man die Wirkungsweise dieses Geräts kennen. Motor-KRITIK-Abonnenten kennen sie. Speziell für Herrn Wiechmann darf ich noch einmal wiederholen, was schon in meiner Geschichte ab 17. Januar 1999, unter dem Titel, "Die Distronic versagte - und wenn ich nicht gebremst hätte...", zu lesen war. Hier folgt der Einfachheit halber ein Auszug meiner Geschichte, die damals nur für Abonnenten zu lesen war. Heute kann sie dann auch von Herrn Günter Wiechmann und Herrn Dr. Peter Kiegeland erreicht werden, weil nachstgehend zumindest der Abschnitt zu lesen ist, der die "Nebeltauglichkeit" der "Distronic" behandelt:

"In der jetzigen Form weist das System noch einige Schwächen auf, die besonders dann deutlich werden, wenn man das System nicht für sich, sondern in Verbindung mit seinen Nutzern, den Menschen betrachtet. Man kann das so oberflächlich tun, wie das z.B. der TÜV Rheinland/Berlin-Brandburg, Köln tut. Zitat:

     "Die Distronic erleichtert das Autofahren vor allem
     auf viel befahrenen Strecken. In gewissen
     Situationen kann sie sogar vor Gefahren schützen.
     Der Autofahrer versteht, die elektronisch gesteuerte
     Distanz-Regelung als Hilfe beim Fahren gut zu
     nutzen, und hat mit dem Handling keine Probleme.

     Dies ist das Ergebnis von umfangreichen Tests mit
     Anwendern, die das Institut für Verkehrssicherheit
     des TÜV Rheinland/Berlin-Brandenburg im Laufe der
     letzten Jahre mit solchen Systemen für verschiedene
     Autohersteller, unter anderem auch
     DaimlerChrysler, durchgeführt hat. Insofern handelt
     es sich bei der Distronic um eine konsequente
     Weiterentwicklung elektronischer Assistenzsysteme,
     die in neuen Autos immer häufiger zum Einsatz
     kommen werden."

Stellen wir der Meinung (und den Feststellungen) der Fachleute vom TÜV die der Fachleute von der BAST, der Bundesanstalt für Straßenwesen, gegenüber. Zitat:

     "Auf der Grundlage einer Literaturstudie und der
     Analyse von Bewertungen vorhandener
     Ausrüstungen anhand einer Checkliste zu
     PROMETHEUS erfolgte eine Sichtung bereits
     durchgeführter Fahrverhaltensbeobachtungen in
     Fahrzeugen mit neuen Sicherheitssystemen. Aus dem
     gewonnenen Datenmaterial wurden Hypothesen über
     die möglichen Auswirkungen automatischer
     Abstands- und Geschwindigkeitsregler entwickelt
     und im Rahmen von Round-Table-Diskussionen in
     Deutschland, Österreich und Schweden erörtert. Auf
     einer Versuchsstrecke wurde das Fahrverhalten bei
     zwei unterschiedlichen Automatisierungsgraden der
     Fahrzeugtechnik hinsichtlich verschiedener
     Fahrverhaltensmerkmale der Testfahrer, wie
     beispielsweise Tempowahl, Überholen, Spurwechsel
     oder Abstandhalten sowie das Interaktionsverhalten
     mit anderen Verkehrsteilnehmern bewertet ... Ziel
     war es, Einstellungstypen in bezug auf
     Verkehrsverhalten und spezielle Merkmale des
     Straßenverkehrs zu definieren sowie
     Differenzierungen von Verhaltensanpassung nach
     diesen Typen vorzunehmen."

Zu den Ergebnissen sagen die Fachleute der BAST:

     "Eine wichtige Rolle im Verhalten des
     Fahrzeugführers anderen - vor allem schwächeren -
     Verkehrsteilnehmern gegenüber spielt die Einstellung
     zum Autofahren und zu anderen
     Verkehrsteilnehmern. Es konnten drei
     Fahrer-Einstellungstypen gefunden werden:

          "hart/risikofreudig"
          "lässig/eigenwillig"
          "aktiv/dynamisch"

     Die persönlichkeitsbezogenen Unterschiede im
     Einstellungs- und Gefühlsbereich reichen

          von der Delegierung der Verantwortung an
          das System
          über das Gefühl höherer subjektiver Sicherheit
          bis zu einem Unbehagen wegen eines
          angeblichen Kontrollverlust.

     Beispiele des Systemeinflusses auf Fähigkeiten und
     Fertigkeiten sind unter anderem eine veränderte
     Aufmerksamkeit. eine verminderte Sensibilität für
     Gefahren und die Zunahme von
     Überwachungsaufgaben."

Das hört sich anders an als beim TÜV. Und bei weiteren Recherchen wurde noch eine weitere gravierende Schwäche der DaimlerChrysler "Distronic" deutlich, die - zumindest bei Motor-KRITIK - die Einordnung des Systems als ein Unsicherheitsfaktor deutlich verstärkte: das Radarsystem der von DaimlerChrysler in der neuen Mercedes S-Klasse verbauten "Distronic" sieht auch bei Nebel besser als das menschliche Auge. Aber nur das, was ihm im Rahmen seiner
technischen Fertig- und Möglichkeiten vorgegeben ist.

Die DaimlerChrysler-Tochter Aerospace AG beschreibt ein solches System so:

     "Ein intelligenter Tempomat - ausgestattet mit einem
     Radarsensor - orientiert sich zu jedem Zeitpunkt am
     jeweiligen Verkehrsumfeld. Er detektiert und
     bewertet alle vorausfahrenden Fahrzeuge, mißt
     deren Abstand und Geschwindigkeit zum eigenen
     Auto und paßt durch Eingriff in Gas und Bremse die
     Geschwindigkeit zum vorausfahrenden Fahrzeug an.
     Fährt dieses Fahrzeug wieder schneller oder verläßt
     es die Spur, beschleunigt das TPR-Fahrzeug erneut
     auf die zuvor eingestellte Geschwindigkeit. Dies
     entlastet den Fahrer auf langen Strecken,
     insbesondere bei schlechtem Wetter, wie zum Beispiel
     Regen oder schlechter Sicht."

Schildern wir zunächst einmal exakt die Möglichkeiten des in der S-Klasse verbauten "Distronic"-Systems:

Das System hat eine Reichweite (Sichtweite) von 150 Meter, funktioniert im Geschwindigkeitsbereich zwischen 40 und 160 km/h und läßt sich auf einen zeitlichen Abstand zum Vordermann von 1,0 bis 2,0 Sekunden einstellen. Aber es werden nur Fahrzeuge oder  Gegenstände erkannt, die sich mit einer Geschwindigkeit von oberhalb 10 Prozent der eigenen Geschwindigkeit fortbewegen. Stehende Gegenstände werden so spät gemeldet, daß ein Crash nur noch durch
ein Ausweichmanöver, aber nicht durch Bremsen zu umgehen ist.

Tatsache: auch im Notfall veranlaßt die "Distronic" nur eine weiche Bremsung mit einer Verzögerung von zwei Metern pro Sekunde², fordert aber den Fahrer gleichzeitig per Signal zu einer Vollbremsungauf. Wenn sich nun der Fahrer aber auf sein elektronisches System verläßt und nicht voll angespannt den Verkehr und seine Instrumente
beobachtet... -

Außerdem besteht die Gefahr, daß ein System "zur Risikokompentsation mißbraucht" wird, wie die BAST, die
Bundesanstalt für Straßenwesen in einer Untersuchung feststellen ließ.

Derzeit sieht die "Distronic" z.B. im Nebel besser als das menschliche Augen. Da ist die Versuchung groß, mit einem solchen System im dichten Nebel schneller zu fahren, als man es ohne System täte. Und alles funktioniert ja auch so lange und gut, wie die Geschwindigkeit des Vordermannes höher als 10 Prozent der eigenen Geschwindigkeit beträgt. Hat sich aber im dichten Nebel vor einem ein Unfall ereignet (pro Jahr ereignen sich ca. 1000 solcher Nebelunfälle), dann stehen die Unfallfahrzeuge auf der Fahrbahn, die "Distronic" kann sie (da vom Menschen so ausgelegt) nicht wahrnehmen, bremst im letzten Moment mit "komfortablen" zwei Metern pro Sekunde²; und noch während das System den Lenker zur Vollbremsung auffordert, hat es schon gekracht.

Weil man diese Schwäche des "innovativen Systems", des Abstandsregel-Tempomaten, der sich bei DaimlerChrysler "Distronic" nennt, kennt, haben andere Automobilhersteller mit einem solchen System noch nicht den Schritt in die Serienfertigung gewagt. Man arbeitet zunächst an der Perfektion, die z.B. im Falle Opel so aussieht,daß man dem Gerät noch einen Nebelsensor mitgibt. Ein integrierter Infrarotlaser sendet hier (zusätzlich zu den Strahlen des Radargeräts) für das menschliche Auge unsichtbare Meßstrahlen aus. Das Empfangsteil registriert die von den Nebeltröpfchen reflektierten Strahlen., Aus dem Grad der Reflektionen errechnet dann ein Computer die Sichtweite und begrenzt dann die vom Radargerät eigentlich noch hingenommene, auf eine der Sichtweite entsprechende Geschwindigkeit .

Radar, Laser, Antennen, Empfänger, Sensoren, Rechner, Stellmotoren, Kabel, Lichtleiter, Schnittstellen. - Wie zuverlässig kann so ein System sein?

Die Schiffahrt benutzt Radar, um auch noch bei Nebel fahren zu können. Wer sich aber z.B. mit einem Kunststoffboot unter die großen Dampfer mischt, die mit Radar-Augen durch den Nebel fahren, der sollte einen Radar-Reflektor am Mast befestigt haben. Denn Kunststoffboote erkennt ein Radargerät nur schlecht. So wird auf einer Autobahn ein Trabant oder eine Corvette sicherlich auch nur schlechter erkannt werden können als ein Tanklastzug. Menschen werden vom Radargerät auch praktisch übersehen werden, da einmal nicht aus dem Stoff bestehen, den Radargeräte besonders mögen, auf der anderen Seite sind sie - zumindest für die "Distronic" - auch zu langsam.

Also was sollen solche Geräte in einem Automobil? - Eigentlich erhöhen sie objektiv im realen Fahreinsatz (unter Berücksichtigung der menschlichen Schwächen - s. BAST) die Gefahr, sind auch zusätzliche Fehlerquellen im Betrieb eines Automobils. Wie derzeit auch dieLagerbestände bei der neuen S-Klasse in Sindelfingen (und
Umgebung) beweisen."

Soweit meine "alte" Geschichte, die aber immer noch aktuell ist. An den grundsätzlichen Fehlern der "Distronic" die heute eigentlich nur einen auf seine Einsatzmöglichkeiten bezogenen Wert von weniger als 1000 Mark hat (aber mehr als 4.500 Mark kostet) hat sich nichts geändert. Und auch die "Reichen" sind von dem System nicht unbedingt angetan. Obwohl die neue S-Klasse bisher viele, viele tausend Mal verkauft wurde, wurde die "Distornic" von den Stuttgartern nur gut 1.600 (in Worten: Eintausendsechshundert) mal an den Mann gebracht. - Wie gut.

Um Herrn Wiechmann eine Anfrage bei Mercedes (pardon: DaimlerChrysler) zu ersparen, habe ich Ende September noch einmal in Stuttgart nachgehört und zur "Distronic" folgende Auskunft erhalten:

"Die seit  Frühjahr 1999 für Fahrzeuge der Marke Mercedes-Benz erhältliche Distronic ist ein Komfort-System, das den Fahrer in bestimmten Situationen des realen Fahrbetriebes positiv unterstützt, es entbindet ihn aber nicht von seiner Verantwortung.

Die Funktion der Radarsensoren der Distronic arbeiten weitestgehend uneingeschränkt auch bei Nebel, die Distronic passt sich aber nicht automatisch den Straßen- und Sichtverhältnissen an. Sie soll deshalb z.B. bei Straßenglätte oder bei Nebel nicht benutzt werden. Dieser Hinweis ist in der aktuellen Betriebsanleitung entsprechend deutlich vermerkt."

Noch einmal für den Herrn Chefredakteur Günter Wiechmann zum Mitschreiben: "Sie soll deshalb z.B. bei Straßenglätte oder bei Nebel nicht benutzt werden." - Gemeint ist die "Distronic", von der Herr Wiechmann fordert, dass sie "nicht nur Fahrern von Luxusklasse-Fahrzeugen vorbehalten bleiben" darf.

Es wäre schön, wenn er seine Leser in einem seiner nächsten Hefte der "Auto Zeitung" über die "Distronic" aufklären und warnen (!) würde. Und vielleicht informiert er auch seinen Briefpartner, dass man bisher als Fahrer bei Nebel nur einem trauen darf: sich selbst. Das Bla-bla vom "technischen Fortschritt" kann er dann beim nächsten Mal weglassen.

Denn ein Heft für DM 3,50 wird eben öfter gelesen als ein Informationsdienst, den sich noch nicht einmal die "Auto Zeitung" leisten kann. - Manchmal ist es eben notwendig, vor dem technischen Fortschritt zu warnen. Wenn er sich nur als ein Marketing-Verkaufsargument erweist.- Für 4.524 Mark.

MK/Wilhelm Hahne
PS: Lieber Herr Wiechmann, vergessen Sie bitte nicht ein Informations-Honorar anzuweisen. Mein Bankkonto finden Sie im Impressum.