Grand Plaisir! - Harley-Tage an der Côte d'Azur!

Journalist sein ist nicht leicht, wenn man seinen Beruf ernst nimmt. Es ist ein wundervoller Beruf, wenn man daran denkt, dass man meistens alles zwei Mal erlebt: Ein Mal zum ersten Mal, zum zweiten Mal, wenn man das Erlebte reflektiert, um es für die Leser nieder zu schreiben. Es kommt aber auch vor, dass man eine Geschichte noch nach Jahrzehnten so deutlich vor Augen hat, wie in dem Moment, in dem man sie niederschrieb. - So ist es mir gegangen, als ich jetzt auf ein altes Manuskript von mir gestoßen bin. Mein Chefredakteur war auf der Suche nach einer Titelgeschichte für „motor magazin“. Ich konnte sie ihm liefern, weil ich – auch ein wenig motorradverrückt – einen anderen Motorrad-Verrückten kannte, der auf eine besondere Art verrückt war: Er importierte für einen – damals - nur kleinen Markt in Deutschland Harley-Motorräder: Erich Krafft. - Es gab damals noch keine offizielle Harley-Niederlassung in Deutschland. - Erich Krafft hatte damals gerade eine Harley aus Amerika kommen lassen, die hier in Deutschland einzig war: Eine Harley mit Seitenwagen. Mit einem Seitenwagen, der auch von Harley gebaut wurde! - Meinem  Chefredakteur schwebte eine Fotogeschichte vor. Da ich nicht recht zum Foto-Model tauge, habe ich ihm meinen Bruder Bernd vorgeschlagen. - Akzeptiert! - Dazu kam noch ein französisches Foto-Model, ein toller Fotograf – und schon konnte die Geschichte starten! - Es wurde dann doch eine Textgeschichte mit vielen sehr guten Fotos. - Obwohl man die gar nicht gebraucht hätte! - Meine ich, wenn ich heute noch mal den gleichen Text in die Computer-Tastatur schlage. - Ohne Fotos!

Grand Plaisir! - Harley-Tage an der  Côte d'Azur!

Nizza ist eine besondere Stadt. Aber vieles ist in  Nizza genauso, wie zum Beispiel in Wanne-Eickel. - Oder doch ein wenig anders. Zumindest passiert es unter anderen Umständen. Da wäre der Sonnenuntergang. In Wanne-Eickel verschwindet die rote Kugel schon früh im Dunst des Ruhrgebiets hinter Schornsteinen und Industriebauten. Und je tiefer sie sinkt, desto leerer werden die Straßen. - Wanne-Eickel wirkt bald wie ausgebrannt.

In Nizza verschwindet die Sonne langsam irgendwo in Richtung Cannes, verschönt noch einmal die unwirklich wirkende Kulisse von Hotelprachtbauten, Blumen, Palmen und Meer an der „Promenade des Anglais“ mit einem rötlichen Glanz, bevor die Straße, nun in bläuliches Neonlicht getaucht, auch zu einer anderen Welt wird. In Dreierreihen schieben sich die Automobile über die Promenade in Richtung Cannes. Und die Straßen füllen sich mit Leben. - Das Leben beginnt hier scheinbar um 20 Uhr!

Auf der Gegenfahrbahn ist der Verkehr genauso dicht an dicht in Richtung Ville France und Monte Carlo. Nur wenn man es schafft, noch eben vor dem Aufleuchten des Rotlichts eine Ampel zu passieren, ist die Straße bei einem Blick in den Rückspiegel scheinbar leer.

Mitten im Gewühl von Automobilen , die anscheinend gar nicht selber fahren, sondern mehr von der nachdrängenden Masse geschoben werden, ist eine besondere Art von Motorrad unterwegs: Eine Harley Davidson Electra Glide. Was die Dame im weißen Hermelin im Fond eines Rolls Royce zu einem leichten Vorbeugen und einem bewundernden Blick mit zustimmendem leichten Kopfnicken veranlasst ist: Die Harley hat einen Seitenwagen. Einen Original-Harley-Seitenwagen! - Der kostet in Deutschland, weil auch in den USA nur in kleinen Stückzahlen hergestellt, schon für sich allein den stolzen Preis von fast 7.500 Mark! - Gewiss, er ist in Handarbeit hergestellt, das Kunststoffboot im Handauflegeverfahren entstanden.

Aber für den genannten Preis ist er noch „nackt“, nicht so komfortabel mit Teppichboden ausgeklebt, wie das Harley-Boot, das nun fest mit der mächtigen 1200er Harley verbunden, über die „Promenade des Anglaise“ tuckert. Ein Fensterputzer, der sich mit einem Mofa, die Leiter seitlich befestigt, geschickt durch das Autogewühl nach vorn schlängelt, vergisst seine Eile, als er das schneeweiße Harley-Gespann erreicht, Er gibt seiner Bewunderung für dieses Prachtgespann durch laute Zurufe Ausdruck, die er mit eleganten Schwüngen seiner linken Hand ausdrucksvoll untermalt.

Die Autofahrer rechts und links neben dem Harley-Gespann geben auf ihre Art ihrem Eindruck  Ausdruck: Ein kurzes Hupen, ein bewundernder Blick, ein begeistertes Zunicken. Das Harley-Gespann ist der absolute Höhepunkt im Verkehrsgewühl des abendlichen Nizza,

Bernd und Elise genießen die Beifalls-Ovationen sichtlich. Elise räkelt sich entspannt in ihrem Boot, hat ihre rechte Hand mit den schamrot lackierten Fingernägeln dekorativ auf dem weißen Kotflügel des Harley-Beiboots gelegt. Und sie ruft Bernd zu, was sie schon beim ersten Anblick des Harley-Gespanns in ihrem so kaprizösen Deutsch ausrief: „Iss ein Traum – he?“ - Bernd lacht. Aber etwas gequält. Bei allem Genießen der Situation: Er muss nicht nur das teure Stück – Neupreis rd. 25.000 Mark – ohne anzuecken durch den Verkehr lenken; er muss auch noch kuppeln und schalten. Und das Training dazu währt zu dieser Stunde erst zwei Tage und seine Fertigkeit ist noch nicht vollkommen.

Diese Harley ist die original amerikanische Polizei-Version, die „drüben“ die Bezeichnung „The Escort“ trägt. Sie hat nicht nur eine verstellbare Teleskopgabel, um den Neigungswinkel der Gabel, abhängig davon, ob die Maschine solo oder im Seitenwagenbetrieb eingesetzt wird, verstellen zu können, sondern hat auch eine Fußkupplung und eine Dreigang-Handschaltung. - Und sozusagen als Zugabe noch einen Rückwärtsgang!

Bernd erinnert sich grinsend an den französischen Flic, der sie – ihn und Elise - im Hafen von Antibes darauf aufmerksam machen wollte, dass man als Motorradfahrer eigentlich einen Sturzhelm trägt. Bernd bat Elise ihm zu übersetzen: „Das ist kein Motorrad!“ - Der Polizist blickte ernst und nachdenklich drein und Bernd ließ ihn durch Elise fragen, ob er denn schon mal ein Motorrad mit drei Rädern und einem Rückwärtsgang gesehen hätte. Als Bernd ihm dann noch den Rückwärtsgang „en nature“ vorführte, da gab sich der Flic lachend geschlagen und wünschte grüßend nur noch: „Grand Plaisir!“

Jetzt ist es nicht unbedingt ein „plaisir“ für Bernd durch die Gänge zu schalten. Das heißt, im Grunde genommen kann er sich nicht erinnern, in diesen Tagen überhaupt schon mal den dritten Gang eingelegt zu haben. Seine Schalttätigkeit beschränkt sich ganz auf die ersten zwei Gänge und den Rückwärtsgang. Der erste Gang reicht bis 40 km/h und der zweite Gang bis … - jedenfalls ist er schnell genug für die Spazierfahrt mit Elise.

Das reicht ihm auch. Denn schon die Fußkupplungs-Tätigkeit erfordert den ganzen Mann. (Von Elise gar nicht zu sprechen.) Bei dieser Fußkupplung, die mit dem linken Fuß bedient wird, ist kein Druckpunkt spürbar. Sie verlangt eine Umstellung des Gefühls. Das Pedal ist so groß, dass man den ganzen Fuß aufsetzen kann, wobei im ausgekuppelten Zustand die Hacke abwärts zeigt. Beim Einkuppeln bewegt man das Pedal um eine Mittelachse mit der Fußspitze nach vorne. Und kuppelt so ein. Was dann die Harley, ein wenig schnaufend, zur Fortbewegung veranlasst.

Wenn sie nicht – wie bei den ersten Versuchen vor Tagen häufiger – ruckelnd und ein wenig seufzend, über solch ein Greenhorn enttäuscht, stehen blieb. - Abgewürgt! - Jetzt geht das Kuppeln schon ganz flott. Und Bernd tanzt – zumindest links – auf dem großen Fußbrett durch den abendlichen Verkehr: Hacke – Spitze – Hacke – Spitze! - Ich hätte mir Balletschuhe kaufen sollen, denkt er.

„Wo willst du hin?“, fragt Elise. Bernd weiß es auch nicht. Er hat sich einfach treiben lassen. Denn wo man an dieser Küste auch hinfährt: Es ist überall interessant! - Elise möchte aber nach Monte Carlo. Und so presst sich Bernd in den Verkehrsstrom der Gegenfahrbahn und vorbei am Hafen von Nizza geht es nun schon etwas zügiger in Richtung Monte Carlo.

Keine Schwierigkeit mit dem Harley-Gespann einen Parkplatz zu finden. Direkt vor dem „Café de Paris“. Also gehen Bernd und Elise dort zum Essen. Und sind enttäuscht. Das Restaurant wirkt billig mit seinen Kunststoff-Dekorationen. Aber natürlich gibt es hier Austern oder… - Aber selbst das Publikum verströmt zum Teil einen Hauch von Halbwelt. Zwar teuer gekleidet, aber… - Elise würde sagen: „Oh-la-la!“

Noch einen Bummel durch den Zeitungsstand und dann in den Spielsaal des „Café des Paris“. Nein – nicht Roulette oder andere Spiele mit einem Hauch von Nerz werden hier gespielt. Hier stehen die „einarmigen Banditen“ in Reih’ und Glied. Wie in Las Vegas. Einwurf ein Franc. - Bernd kramt in seinen Taschen, wirft ein Franc-Stück hinein, zieht am Hebel und… - es klingelt unten. - Bernd hat 18 Franc gewonnen.

Er beschließt, sein Spielglück nicht heraus zu fordern und macht sich mit Elise auf den „Heimweg“. Zurück ins Saint-Paul-de-Vence, wo die Zwei hoch über allem Gewimmel der High Society wie in einem alten Räubernest wohnen.

Die insgesamt drei Scheinwerfer der Harley geben ein gutes Fernlicht, als es jetzt über die „Grande Corniche“ zurück in Richtung  Nizza geht. Als angenehm empfindet Bernd, dass die Blinker nur so lange leuchten, wie man den Blinkerknopf drückt. Beim Anzeigen von schnellen Fahrbahnwechseln angenehm. - Knopf am linken Lenkerende: Linker Blinker. Knopf am rechten Lenkerende: Rechter Blinker.

Es ist kühl geworden. Bernd wird Elise gleich wärmen müssen.

Der nächste Morgen verspricht einen strahlenden Tag. Bernd will seine inzwischen gewonnenen Fertigkeiten auf der Harley auf einer Fahrt durch die Seealpen demonstrieren. - Wem? - Elise natürlich! - Und sich ein wenig im Kurvenfahren üben.

Ein Dreh am großen Schalter auf dem Tank, einige Kontroll-Leuchten glimmen auf, ein Druck auf den Starterknopf am rechten Lenkerende und surrend reiß der Anlasser die zwei Kolben aus ihrem Schlaf, zerrt sie die mehr als 100 Millimeter Hub Hub hinauf und hinab – bis es das erste Mal zündet. Leicht stotternd und spuckend springt die Harley an. Noch rasselt sie ein wenig, bis sich die hydraulischen Stößel, die das Ventilspiel selbst regulieren, unter dem Druck des Öls wieder beruhigt haben.

Nun tuckert sie dumpf im Leerlauf, während sich Bernd die Brille zurecht schiebt. Dann – Hacke – erster Gang – Spitze – und mit dem dumpfen, sonoren Harley-Schlag setzt sich das Gespann in Bewegung. Dann wieder: Hacke – zweiter Gang – Spitze – und ab geht’s in Richtung Berge. Auf den nicht immer ganz ebenen Straßen wippt Elise selig in ihrem Boot auf und ab.

Beim Beschleunigen muss Bernd stark zupacken. Die Harley will immer um den Seitenwagen herum, Und Bernd muss gegenhalten. Und beim Bremsen will der Seitenwagen immer an der Harley vorbei, obwohl das Seitenwagenrad doch auch hydraulisch gebremst wird. Bernd muss wieder kräftig gegenhalten. - Auch ‚ne Art von Body Building, denkt Bernd.

Und dann kommen die Kurven. Bernd hat ein wenig Angst vor einem hoch kommenden Seitenwagen, holt die Harley in Rechtskurven vorsichtig herum. Aber es geht immer besser, Bernd wird immer routinierter, mutiger und dann – schwebt der Seitenwagen plötzlich! - Eine kleine Korrektur. Der Seitenwagen ist wieder unten. Ein kurzer Blick hinunter auf Elise: Die hat nichts gemerkt. Für sie war es nur eine besonders intensive Wippbewegung des Seitenwagenbootes. - „Iss ein Traum – he?“, strahlt sie Bernd an. - Woran die wohl denkt?

Dann  hinauf zum „Col de Brausse“. Kurve folgt auf Kurve, Kehre auf Kehre. Die Sonne brennt heißt und wirft die frühlingshaften langen Schatten. Irgendwo eine Rast. Einen Schluck Wein trinken. Der Gaston bedauert. Er hat nur eine Konzession für alkoholfreie Getränke.

Nach so ein paar eindrucksvollen Stunden voll von prallem Genießen schmeckt jetzt auch eine Coca Cola wie ein Luxusgetränk und Elise fühlt sich wie … - Und die Harley knistert langsam abkühlend, leise dazu.

Dann der Weg zurück. Bernd steht fest auf den breiten Brettern, die mit der Harley für ihn nun eine neue Welt bedeuten. Eine neue Welt des Motorradfahrens! - Das Gespannfahren! - Er hat früher, schnelle Solomaschinen gewöhnt, es für eine Art von Motorradfahren zweiter Klasse gehalten. Und eine Harley für eine „alte Kiste“.

Und jetzt zeigt ihm diese „Alte“ den Weg zu einem neuen Genuss. Man müsste 25.000 Mark über haben, denkt Bernd ein wenig traurig. Oder genau genommen 22.900 Mark, die Herr Krafft jetzt für dieses Gespann verlangen wird, weil es am Ende dieser Genuss-Tage schon 1.000 Kilometer gelaufen haben wird.

Auf ein neues Gespann würde man 18 Monate warten müssen. Eine lange Lieferzeit! - „Iss ein Traum – heh?“, ruft ihm Elise mit einem strahlenden Lächeln und kurzem Wimpernklimpern zu. Das reißt Bernd aus seinen Träumen und er beschließt noch am gleichen Abend mit seinem Quarz-Chronometer exakt zu stoppen welch kurze Zeit eigentlich Elise mit ihrem Augenaufschlag dazu braucht, um sein Herz schneller schlagen zu lassen. (Das Mittel aus mehreren Messungen ergab: 0,8 sec)

Nun scheint alles Vergangenheit, wie eine Träumerei. Bernd und Elise stehen in der Abflughalle des Fughafens Nizza. Die Harley wird jetzt wieder im Lkw auf dem Weg nach Deutschland sein. Langsam bewegt sich die Schlange vor dem Abfertigungsschalter vorwärts. Daneben, am Abfertigungsschalter für die „First Class“ erscheint eine in Pelz verpackte ältere Dame, in deren Gesicht ein Luxusleben unverwischbare Runen hinterlassen hat.

Elise macht Bernd darauf aufmerksam: Hinter der Dame ein Gepäckträger auf dessen Wägelchen allein Vouis-Viton-Koffer im Wert von gut 10.000 Mark schaukeln. Bernd rechnet kurz: „Mensch, die hat weit mehr an Sachen mit, als ein Harley-Gespann neu kostet!“

Elise fragt: „Möchtest du sie haben?“ - Bevor Bernd antworten kann, erinnert sie: „Aber die wippt nicht so schön wie ein Harley-Seitenwagen!“

Und lachend streben Bernd und Elise dem Abflug zu. - Zurück in ein normales Leben.

MK/Wilhelm Hahne

Nachtrag: Lang, lang ist’s her! - Mein Bruder Bernd ist genauso wie Erich Krafft schon einige Jahre tot. - Und Harley hat auch schon ein paar Jahrzehnte eine offizielle Vertretung in Deutschland, deren erster offizieller Harley-Händler dann Erich Krafft war. - Inzwischen unter neuer Leitung und neuem Namen. - Harley lebt!

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